Die Kundgebung zum Tag der Arbeit in Harburg offenbarte das gespannte Verhältnis des Bürgermeisters zu den Gewerkschaften.

Harburg. Am Ende stehen sie dann doch alle beieinander, Hand in Hand, und wärmen sich singend das Herz, zumindest die linke Kammer. "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder, zum Lichte empor ..."

In der Stunde zuvor gab es einige Augenblicke im Kulturzentrum Rieckhof, in denen man sich Sorge um den versöhnlichen Ausklang machen konnte. Denn diese Harburger Kundgebung der Gewerkschaften zum 1. Mai hatte es in sich, und das lag vor allem an dem polarisierenden Gast: Olaf Scholz. Einerseits erster sozialdemokratischer Bürgermeister seit zehn Jahren, ein Genosse, den sie hier alle duzen. Andererseits oberster Arbeitgeber der Stadt und aus Sicht vieler Gewerkschafter auch oberster Sparkommissar und Personalkürzer. Ein rotes Tuch, so oder so.

Dabei ist der Auftakt geradezu romantisch. "Für Dich soll's rote Rosen regnen", gibt die Tom Bailey Band, ein Duo aus Schnauzbartträger und fescher Brünette, gerade live zum Besten, als Scholz um 10.47 Uhr den Saal betritt - fast unbemerkt, da die 600 Gewerkschafter noch durch die Stadt ziehen. Auch als die Menge eintrifft und der örtliche DGB-Vorsitzende Thomas Bredow Scholz begrüßt, gibt es vor allem Jubel - im seit der Wahl wieder tiefroten Harburg kann sich niemand an den Auftritt eines Bürgermeisters am 1. Mai erinnern. Viele Gäste wie Georg Renken, 78, sind gekommen, um Scholz live zu erleben. Sein Bekannter Gerhard Weichel, 76, sagt, er sehe den Bürgermeister sehr positiv: "Er hält, was er verspricht, und drückt sich nicht."

Kommentar: Das Thema Arbeit ist immer aktuell

Auch nicht vor Kritik. "Es brennt in Europa", sagt Bredow und macht dafür den strikten deutschen Sparkurs und die Agenda 2010 verantwortlich - maßgeblich vom damaligen SPD-Generalsekretär Scholz initiiert. Der sitzt in der ersten Reihe und hört interessiert zu. Auch Hans-Jürgen Meyer, Personalratsvorsitzender im Bezirksamt, attackiert Scholz kräftig für die Ankündigung, je höher die Tarifabschlüsse, desto größer der ohnehin geplante Personalabbau: "Wer seine eigenen Beschäftigten nicht wertschätzt, sondern auspresst, der bekommt einen Saftladen." Lauter Jubel.

Als Scholz um 11.30 Uhr die mit DGB-Fahnen und Maibüschen geschmückte Bühne betritt, schlägt ihm eine Mischung aus Begeisterung und Ablehnung entgegen. Daran ändert auch seine seltsame Begrüßung "Liebe Kolleginnen und Kollegen" nichts - plötzlich springt ein Mann mit Protestschild auf die Bühne: "Olaf Scholz: Mitverantwortlich für Agenda 2010" steht darauf und auf der Rückseite: "Olaf Scholz ins Dschungelcamp". Lachen, Applaus, aber mehrheitlich Buhrufe. Und Scholz dreht die Stimmung sofort zu seinen Gunsten: "Ich darf nicht ins Dschungelcamp", ruft er, "denn erstens bin ich kein C-Promi und zweitens habe ich einen ordentlichen Beruf erlernt." Er meint Rechtsanwalt.

Scholz: Gesetzlicher Mindestlohn in Hamburg

Vermutlich hatte er es ohnehin so geplant, aber vielleicht ist das auch der Moment, in dem der Bürgermeister seiner frei vorgetragenen Rede eine Wendung gibt. Er spricht nicht über die Schuldenbremse, die er für zwingend notwendig hält, nicht über die strikte Ausgabenbeschränkung für alle Behörden, nicht über die mindestens 250 Stellen, die er Jahr für Jahr abbauen will, nicht über das gekürzte oder - je nach Lesart - von ihm gerettete Weihnachtsgeld der Beamten. Kurz: Er sagt zwar, dass die Zeiten "schwierig" sind und er "Prioritäten setzen" müsse. Aber hier und heute spricht er nur über das, was die Menschen gern hören.

Scholz betont die Bedeutung der Harburger Industriebetriebe und der Technischen Universität, lobt seinen Senat für den Durchbruch bei der Elbvertiefung und für die baldige Abschaffung von Studien- und Kitagebühren. Für seine Verhältnisse redet sich der53-Jährige geradezu in Rage, gestikuliert, wendet sich seinen Zuhörern zu - und ignoriert, dass sich am Rande der Bühne mittlerweile zwei Männer mit einem riesigen Transparent aufgestellt haben: "Olaf heißt er, uns bescheißt er".

Es wird nicht erklärt, was genau damit gemeint ist. Für Scholz' Aussage, er sei bewusst nach Harburg gekommen und nicht zu der zentralen DGB-Kundgebung am Fischmarkt gegangen, gilt jedenfalls: Auf der großen Gewerkschaftsveranstaltung in Hamburg dürfen Politiker traditionell keine Rede halten, in Harburg schon. Während am Hafen der IG-Metall-Chef BertholdHuber vor gut 7000 Leuten ankündigt, mit Warnstreiks der Forderung nach 6,5 Prozent mehr Lohn Nachdruck verleihen zu wollen, und Hamburgs Gewerkschaftschef Uwe Grund den Sparkurs des SPD-Senats anprangert, darf Scholz im Rieckhof erzählen, dass er seit seinem 18. Lebensjahr kaum eine 1.-Mai-Kundgebung verpasst habe.

"Das mit den ordentlichen Löhnen kommt nicht von selber", ruft er, dafür müsse man schon kämpfen. Sein Senat arbeite an einem Mindestlohngesetz. 8,50 Euro pro Stunde soll jeder Bedienstete der Stadt mindestens bekommen; auch Unternehmen, die für die Stadt arbeiten, sollen sich dazu verpflichten. Überhaupt: Auch wenn es ihn noch nicht bundesweit gebe, sei die "Schlacht um den Mindestlohn" längst gewonnen, sagt Scholz und beobachtet, wie ein älterer Herr versucht, auf dem Rednerpult zwei Kerzen zu entzünden. "Das soll hoffentlich nicht mich erleuchten, sondern die Veranstaltung", witzelt er, während dem Mann ständig die Streichhölzer ausgehen.

Schließlich geht doch noch ein Licht auf, Scholz ruft zur Teilnahme am Anti-Neonazi-Aufmarsch am 2. Juni auf, die Männer mit dem Transparent verschwinden, alle nehmen sich an die Hände und singen: "Ewig der Sklaverei ein Ende, heilig die letzte Schlacht." Scholz singt mit, er weiß: Schlachten wie diese muss er noch viele schlagen.