Den 1. Mai zu zelebrieren hat seine Berechtigung

Der 1. Mai hat auch etwas Folkloristisches. Aufmärsche, Kundgebungen und Gesänge über "Brüder", die gemeinsam in die Schlacht ziehen, wirken zwar antiquiert und sind naturgemäß nicht jedermanns Sache. Aber an der Berechtigung, einen "Tag der Arbeit" zu zelebrieren, ändert das nichts.

Denn der Umgang mit Beschäftigung und Beschäftigten wird in unserer Gesellschaft immer ein Thema sein, allenfalls passt sich die Fragestellung der Zeit an. Ging es einst um den Acht-Stunden-Tag, später um Mitbestimmung oder das Recht auf Arbeit an sich, steht heute ein Problem auf der Tagesordnung, das wir in Deutschland früher nur aus Berichten über die USA kannten: Als "working poor" werden dort Menschen bezeichnet, die trotz Arbeit arm sind.

Inzwischen ist dieses Problem auch in Deutschland bestens bekannt. Obwohl die Arbeitslosenquote stetig sinkt, sind laut Armutsbericht konstant rund zwölf Millionen Menschen - 14,5 Prozent der Bevölkerung - armutsgefährdet. Mit anderen Worten: Die Zahl derjenigen, die trotz Arbeit sich oder ihre Familie nicht ernähren können und vielleicht staatliche Hilfe in Anspruch nehmen müssen, steigt. Das ist eines so reichen Landes wie Deutschland schlicht unwürdig.

Wenn jemand wie Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz am 1. Mai auftritt und sagt, das mit den "ordentlichen Löhnen" komme nicht von selber, dafür müsse man schon kämpfen, hat er natürlich recht. Auf der anderen Seite zeigt es ein Dilemma auf. Denn im Gegensatz zu den meisten Unternehmen, die derzeit prächtig verdienen und aufgerufen sind, ihre Mitarbeiter daran teilhaben zu lassen, macht der Staat keine Gewinne. Auch ein relativ reicher Stadtstaat wie Hamburg nicht. Wenn der Scholz-Senat einen Mindestlohn für alle Mitarbeiter der Stadt einführt, muss das also durch geringere Ausgaben an anderer Stelle oder durch höhere Steuern und Abgaben finanziert werden. Doch das sollte es uns wert sein. Denn letztlich arbeiten die Betroffenen für uns Bürger. Und 8,50 Euro die Stunde sind immer noch ein sehr geringer Lohn.