Bergedorf. Von Stolz bis Überheblichkeit: An der Schwelle zum 20. Jahrhundert blickt unsere Zeitung auf die Gefühlslage in Bergedorf und im Reich.

„Wer konnte sich früher vorstellen, dass man Licht brennen kann ohne Öl? Wer hätte gedacht, dass uns dereinst der Telegraf die wichtigsten Nachrichten aus den fernsten Weltteilen in wenigen Stunden übermitteln würde? Welche Bedeutung die Erfindung der Röntgenstrahlen hat, wird schon jetzt allgemein anerkannt. Und es ist sicher, dass diese noch an Bedeutung gewinnen werden.“ Mit diesen Worten begrüßt die Bergedorfer Zeitung in ihrer Ausgabe vom 1. Januar 1901 das neue Jahrhundert.

Die Redaktion um Herausgeber und Chefredakteur Carl Eduard „Ed.“ Wagner widmet dem Thema den Großteil ihrer Titelseite. Es ist ein knapp 100 Zeilen langer Text, der tiefe Einblicke in die Gefühlslage der Menschen vor gut 120 Jahren gibt – einschließlich des Hinweises, dass es korrekt sei, das neue Jahrhundert erst 1901 einzuläuten, obwohl „im vorigen Jahre die Feier des Jahrhundertwechsels offiziell angeordnet war“.

„Deutschlands stolze Kriegs- und Handelsschiffe durchziehen fremde Meere“

Der Ausblick in die Zukunft fällt allerdings nicht nur stolz aus, sondern auch recht kraftstrotzend: „Mächtig und geachtet steht Deutschland da. Und während seine Stimme im Rat der Völker besonders ins Gewicht fällt, durchziehen seine stolzen Kriegs- und Handelsschiffe ferne Meere, überall Achtung gebietend.“

Blick in die 1882 gegründete Stuhlrohrfabrik von Rudolf Sieverts an der heutige Stuhlrohrstraße in Bergedorf: Die „Hobler
Blick in die 1882 gegründete Stuhlrohrfabrik von Rudolf Sieverts an der heutige Stuhlrohrstraße in Bergedorf: Die „Hobler" verarbeiten die abgespaltene Schale des Rattans an der Hobelmaschine zu Flechtrohr. Die dabei anfallenden Abfallspäne wurden gepresst und an Stukkateure geliefert. © Kultur- & Geschichtskontor | Kultur- & Geschichtskontor

Damit formuliert unsere kaisertreue Zeitung ganz im Sinne von Wilhelm II., der zum Jahrhundertwechsel längst begonnen hatte, eine riesige Seestreitmacht aufzubauen, um den verhassten Engländern der Vormachtstellung auf den Meeren streitig zu machen. Ein Projekt, das 1914 schließlich im Ersten Weltkrieg enden sollte.

Als Napoleon Bergedorf zu einem Teil Frankreichs machte

Tatsächlich scheinen Kriege zum Jahreswechsel 1900/01 noch fest zum Weltbild der Bergedorfer gehört zu haben. So schaut unsere Zeitung zurück auf die Entstehung des Deutschen Reiches und seiner Vorgeschichte als Abfolge siegreicher Kriege: „Zu Anfang des abgelaufenen Jahrhunderts lag Deutschland in Schmach und Knechtschaft danieder und seufzte schwer unter der Herrschaft des übermütigen Korsen“, wird an Napoleons Besetzung erinnert, die auch Bergedorf von 1811 bis 1813 zum Teil Frankreichs machte.

Der letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II. (li.), mit Admiral Henning von Holtzendorff, Chef der Hochseeflotte.
Der letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II. (li.), mit Admiral Henning von Holtzendorff, Chef der Hochseeflotte. © picture-alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / dpa

„Erst nach dem kläglichen Rückzug seiner sieggewohnten Armee aus Russland, konnte sich Deutschland aufraffen und die Fremdherrschaft abschütteln“, geht die Geschichtsstunde auf der Titelseite unserer Zeitung weiter und erinnert an die Rückkehr zur Aufsplitterung des späteren Deutschland in diverse Herzog- und Fürstentümer, Königreiche und einzelne freie Städte wie Hamburg: „Ohnmächtig blieb Deutschland Jahrzehnte hindurch. Und dieser Furcht vor anderen Staaten war es zuzuschreiben, dass Schleswig-Holstein 1851 wieder an Dänemark ausgeliefert wurde.“

Rückblick auf das „Jahrhundert der Erfindungen“

Tatsächlich hatten sich die preußischen Truppen damals auf internationalen Druck zurückgezogen, sodass die Dänen Schleswig-Holstein unter ihre Führung bringen konnten. Doch 13 Jahre später wendete sich das Blatt – und jetzt wird die Rhetorik der Bergedorfer Zeitung kriegerisch: „Erst 1864 wurde es vom Dänenjoch für immer befreit. Leider führte die Regelung der Verhältnisse Schleswig-Holsteins zum Bruderkrieg von 1866 mit Österreich. Was zur Folge hatte, dass der Norddeutsche Bund gegründet wurde unter der Führung Preußens. Das war der Anfang zur Einigung, die sich 1870/71 gänzlich vollzog und besiegelt wurde durch die Ernennung von Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser.“

Das frisch vergangene 19. Jahrhundert feiert unsere Zeitung als „Jahrhundert der Erfindungen“. Dampfmaschine und Elektrizität hätten Industrie und Verkehr „zu einer früher nicht geahnten Entwicklung geführt“.

Die Handelsstadt Hamburg sei in dieser Zeit „zu einer der schönsten Städte in ganz Deutschland geworden“. Dabei wird der Abbruch der Gängeviertel als sichtbarer Fortschritt hervorgehoben, nicht aber auf das Vertreiben der Zehntausenden von Hafenarbeitern eingegangen, die hier mit ihren Familien gewohnt hatten. „Schöne Straßen und Monumentalbauten kommen immer mehr hinzu“, lobt unsere Zeitung Hamburgs Stadtplaner – ebenso wie die Bergedorfer: Die zum Jahrhundertwechsel von einst 3000 auf gut 10.000 Einwohner gewachsene Stadt sei „eine Perle geworden im Kreise deutscher Kleinstädte“.

Die Belegschaft der Nagelfabrik 1902 vor den Produktionshallen im heutigen Lohbrügge nahe Habermannstraße. Auffällig ist der große Anteil von Frauen.
Die Belegschaft der Nagelfabrik 1902 vor den Produktionshallen im heutigen Lohbrügge nahe Habermannstraße. Auffällig ist der große Anteil von Frauen. © Bergedorf-Museum | Bergedorf-Museum

Der abschließende Blick in die Zukunft lautet so: „Möge Deutschland im neuen Jahrhundert seinen Ruhm bewahren und seine Macht stärken. Mögen Hamburg, Bergedorf und die ganze Umgegend sich weiter kräftig entwickeln und verschönern und Handel und Industrie zur schönsten Blüte sich entfalten, damit es allen wohlergehe.“