Viele Kranke, die zeitnah keinen Termin beim Facharzt bekommen, gehen in die Notaufnahme. Klinikambulanz ersetzt niedergelassene Mediziner.

Hamburg. Der erste Kindernotfall am frühen Sonnabendabend humpelt auf einem Bein in die Zentrale Notaufnahme (ZNA) des Bergedorfer Bethesda-Krankenhauses. Joana, 10 Jahre alt. Marco Eggers muss seine Tochter auf dem Weg zum Behandlungsraum 7 stützen. Ein Auto war aus einer Einfahrt gerast und hatte das Mädchen vom Rad geholt. Der Unfallverursacher flüchtete, die Polizei ermittelt.

Nun winkelt Joana auf einer Liege das lädierte rechte Bein an. Über der geschwollenen Kniescheibe ist die Haut aufgeschürft. "Tut das sehr weh?", fragt Ärztin Maria-Noëlle Krauß und tippt mit einem Finger sanft auf die Wunde. "Ist nicht schlimm", sagt Joana und lächelt. Sie habe schon Schlimmeres erlebt. "Einmal habe ich ein Brot geschnitten und mir dabei mit einem Messer den halben Finger abgehackt." Da seien sie auch gleich in die Notaufnahme gefahren. "Und damals wie heute bin ich sofort drangekommen."

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Das ist keine Selbstverständlichkeit, weder in der Bergedorfer ZNA noch in irgendeiner anderen Hamburger Notfallambulanz. Doch an diesem Sonnabend ist es vergleichsweise ruhig. Anders als eine Woche zuvor, als die Notaufnahme brechend voll war und ein Kleinkind mit Atemnot zum Entsetzen seiner Eltern nachrangig behandelt wurde, weil die Ärzte den Fall als weniger dringend eingestuft hatten - zu Recht, wie sich herausstellte. Im Bethesda gibt man sich dennoch selbstkritisch. "Wir hätten sicher besser auf die Sorgen der Eltern eingehen müssen", sagt Oberärztin Dr. Tanja Knolinski.

Solche Fälle souverän zu meistern, darauf wird das Personal im Bethesda extra geschult. So wie Schwester Beate Rabe, seit mehr als 15 Jahren die gute Seele der Klinik. Das blaue "D" auf ihrem Namensschild steht für Deeskalation. "Es gibt immer mehr Leute, die herumpöbeln", sagt sie. "Das ist besonders bitter, wenn man 13 Stunden am Stück gearbeitet hat und dann jegliche Wertschätzung fehlt." Ein weiterer Trend: "Immer mehr Patienten, die zeitnah keinen Termin beim Facharzt bekommen, lassen sich in der Notaufnahme durchchecken", sagt Dr. Tanja Knolinski. Die Klinikambulanz ersetzt so den niedergelassenen Mediziner. Dagegen ist das Bethesda machtlos: Als Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung darf es keine Patienten abweisen. Schwester Beate Rabe geht durch die Korridore der Notaufnahme. Sie wirkt fast entspannt. "Heute ist nicht viel los, vermutlich weil halb Bergedorf den Hafengeburtstag besucht", sagt sie. Patienten, auch die sogenannten Selbsteinweiser, die nicht von einem Arzt in die Klinik geschickt wurden, kommen daher zügig an die Reihe.

Plötzlich dringen schrille Schreie aus Behandlungsraum 9, schon eilt Beate Rabe davon. Minuten später öffnet sich die schwere Tür, und heraus tritt Midian mit seinen Eltern. Der Sechsjährige hatte Pech: Er fiel im Schrebergarten aus einer Schaukel auf einen Ast, der sich tief in sein Gesäß bohrte. Ein Notarzt hat gerade die dicken Splitter aus der Wunde entfernt. "Das hat so wehgetan", sagt er, "aber am schlimmsten waren die Spritzen, die hasse ich." Immerhin, der Junge, noch etwas blass, kann schon wieder lächeln.

Die beiden Tafeln, auf denen eingetragen ist, was in welchem Raum gerade behandelt wird, bleiben fast leer. In Raum 2 liegt eine Frau mit stark erhöhtem Blutzucker, in Raum 4 ein älterer Mann mit Verdacht auf Herzinfarkt, in Raum 1 ein erst 32-jähriger Mann mit Herzproblemen. Für einen Sonnabend ist das nicht viel, zumal das Bethesda als letztes Krankenhaus vor der Landesgrenze in seinem Versorgungsgebiet für rund 300 000 Menschen zuständig ist. Allein 7214 Notfallzuführungen listet die Statistik für 2011 auf, im Verhältnis zur Größe des Bethesda mit seinen 333 Betten verzeichne nur noch die Asklepios-Klinik Wandsbek mehr Notfälle. "Am Wochenende kann man die Patienten in der Regel stapeln", sagt Rabe. Für die in der Nachtschicht zwischen 21 und 9 Uhr eingesetzten Pfleger und vier Ärzte - zwei Internisten, zwei Chirurgen - bedeute das häufig Stress pur, Diagnosen und Behandlungen im Akkord.

Pfleger, Ärzte, Sanitäter - sie alle arbeiten zusammen wie ein Schweizer Uhrwerk. Um 20.40 Uhr bringen Feuerwehrleute einen älteren Herrn in die Ambulanz. Er bekommt kaum noch Luft. Schockstarr liegt er da, die Augen wie erloschen, das Gesicht aschfahl. Schwester Annett Petrillo streichelt beruhigend seine Hand, bevor sich ein Arzt um ihn kümmert. "Die Arbeit ist so erfüllend, weil du Menschen Gutes tun kannst", sagt Pfleger Sönke Schween, 43. Nur die Nachtdienste, die stecke er nicht mehr so gut weg wie vor 20 Jahren. "Ich gehe aber meist mit einem guten Gefühl nach Hause."

So wie Joana. Gegen 21 Uhr verlässt sie mit einem dicken Verband und auf Krücken die Klinik. Sie hat eine Knieprellung erlitten. Joana war einer von 21 Notfällen. Eine mit geplatzter Fruchtblase eingelieferte Frau brachte eine Tochter zur Welt, Sarah. "So etwas", sagt Schwester Beate, "macht selbst uns alte Hasen glücklich."