Essay

Sind Großprojekte überhaupt noch möglich?

| Lesedauer: 13 Minuten
Matthias Iken
Ob bei der Briefwahl
oder im Wahllokal:
Die Gegner
der Hamburger
Olympia-Bewerbung
waren überall
in der Mehrheit.
Das überraschende
Ergebnis wirft viele
Fragen auf. Die
vielleicht wichtigste:
Was ist in
Deutschland an
großen Projekten
noch möglich?

Ob bei der Briefwahl oder im Wahllokal: Die Gegner der Hamburger Olympia-Bewerbung waren überall in der Mehrheit. Das überraschende Ergebnis wirft viele Fragen auf. Die vielleicht wichtigste: Was ist in Deutschland an großen Projekten noch möglich?

Foto: Daniel Bockwoldt / dpa

Das Hamburger Nein zu Olympia mag überraschend sein, dabei passt es ins Bild. Die Mehrheit tickt anders als die Elite. Eine Polemik.

Das gibt’s nur einmal.“ Zumindest für Kinder klingt das nach einem Versprechen. Wenn die Welt noch jung, frisch und unverbaut erscheint, geht von diesen vier Worten ein unfassbarer Reiz aus, ein Versprechen, eine Verheißung. Für die Mehrheit der Hamburger, das wissen wir seit Sonntag Abend, ist das Einmalige eher eine Bedrohung, eine Fährnis, eine Strapaze.

Wer wagt gewinnt, hieß es früher. Der Spruch taugt für die Mottenkiste der Geschichte. Wer wagt, verliert, lautet das Motto der Gegenwart. So gefällt’s den Deutschen im 21. Jahrhundert besser. Nur ob man damit zu den Gewinnern zählen wird, darf bezweifelt werden.

Nun hat die Abstimmungsentscheidung eines jeden Hamburgers – ob Ja, ob Nein – jeden Respekt verdient. Es gab im Vorfeld viele berechtigte Sorgen und Ängste. Wie sollen wir die Spiele finanzieren, wenn sich nicht einmal die Stadt und der Bund einigen können? Rücken wir unsere schöne Hansestadt in das Fadenkreuz der Terroristen? Und was ist angesichts von Skandalen und Skandälchen eigentlich von der guten Idee eines Festes der Jugend geblieben?

Eines kann man der Stadt nicht vorwerfen – sie hat diese Frage mit Verve diskutiert: In Kirchengemeinden, Sportverbänden, auf Wochenmärkten und Schulhöfen wurde debattiert und gestritten, Tonnen von Papier bedruckt, endlos Worte gewechselt, Masterpläne präsentiert, Erklärungen unterzeichnet.

Die Befürworter hatten so viel auf ihrer Seite und haben doch verloren

Wie nie zuvor haben die Olympia-Befürworter das Gespräch mit den Gegnern gesucht, sich beraten und überzeugen lassen, nachgebessert. Olympische Spiele 2024 sollten nicht eine fixe Idee von oben bleiben, sondern alle in der Stadt mitnehmen. Viele fragen sich nun, was sie falsch gemacht haben.

Lange war die Begeisterung unübersehbar: 20.000 Hamburger hatten im Februar an der Binnenalster demonstriert, dass sie Feuer und Flamme für die Spiele sind. 10.000 Menschen bildeten im November im Stadtpark die olympischen Ringe nach. Damals schafften es nur eine Handvoll Gegner dorthin. Jede NOlympia-Demonstration blieb eine überschaubare Veranstaltung. Ja, es gelang Gegnern nicht einmal, die notwendigen 10.000 Unterschriften zu sammeln, um ihre Sichtweise der Dinge ins Informationsheft zum Referendum zu bringen. Aus Fairness durften die Kritiker dann doch zu Wort kommen – und entschieden sich für einen Comic.

Alle Umfragen sagten ein klares Ja voraus. Die Befürworter wähnten die Argumente, das Engagement und die Aktionen auf ihrer Seite. Natürlich fürchteten viele den Einfluss schlechter Nachrichten wie die Anschläge in Paris oder die DFB-Affäre während der Abstimmung. Aber sie können das Nein kaum erklären. Die Ergebnisse der Briefwahl und der Abstimmung an den Urnen decken sich. Das deutet daraufhin: Am Ende ging es vielleicht weniger um Argumente oder Ängste, als vielmehr um das Signal: So nicht! Fast auf die Nachkommastelle deckt sich das Ergebnis aus Hamburg mit dem aus München. Die Bewerbung um die Olympische Winterspiele 2022 scheiterte dort bei vier Referenden in der Landeshauptstadt, in Garmisch-Partenkirchen sowie den Landkreisen Traunstein und Berchtesgaden. Obwohl auch die Münchener Umfragen zuvor stets eine Mehrheit für die Spiele voraussagten, votierten im November 2013 überraschend 52 Prozent dagegen, nur 48 Prozent noch dafür. Deutschland ist Neinsagerland.

Ein „Nein“ holte sich der Hamburger SPD-Senat schon beim Rückkauf der Netze ab, Schwarz-Grün bei der Abstimmung über die Primarschule. Offenbar hat – bei allen berechtigten Argumenten – ein Nein eine fast erotische Note: Mit einem Kreuz kann man es der großen Politik mal richtig zeigen, mit einem Federstrich ein bisschen Robin Hood, Luther und Che Guevara in einem sein. Und gleichsam auch mit einem altem Vorurteil aufräumen, der Deutsche würde zu allem Ja und Amen sagen. Weit gefehlt. Er sagt zu allem lieber: Nein.

Sogar bei der Abstimmung zu Sommerspielen in der Hansestadt, die man vor wenigen Wochen und eingedenk der Umfragen für unverlierbar gehalten hatte. Wer würde gegen den Aufstieg Hamburgs zur Weltstadt stimmen, gegen die Finanzierung der lang ersehnten Infrastruktur auf Kosten des Bundes, gegen massiven Wohnungsbau, gegen die Entwicklung eines behindertengerechten Stadtteils, gegen den Sprung über die Elbe, gegen ein internationales Fest für Sportler aus aller Welt? Bei den Berlinern hegte man Zweifel, in der Bürgerstadt Hamburg eben nicht – gerade deshalb hatte sich der Deutsche Olympische Sportbund im Frühjahr für die Hansestadt als Bewerber entschieden.

Was für ein Missverständnis! Und was für eine Botschaft für das Land!

Was kann hierzulande eigentlich noch vom Bürger abgesegnet werden, fragen nun viele. Das ist die entscheidende Botschaft des 29. September. Und diese Botschaft muss Deutschland Sorgen bereiten.

Im Votum der Hamburger bricht sich ein Gefühl Bahn, das vielen Enttäuschungen und leeren Versprechungen geschuldet ist: Alles soll so bleiben, wie es ist! Keine Experimente, bitte! Wir wollen kein besseres Morgen mehr, sondern lieber ein gemütliches Heute. Das Biedermeier ist zurück. Eine tiefe Skepsis herrscht gegen alles, was Zukunft verheißen kann. Ja, sie ist uns in unserer Gegenwartsfixierung fremd geworden. In dieser Weltsicht ist das Morgen ein Dunkel, jede Utopie der Dystopie gewichen. Olympische Spiele 2024 waren für viele Gegner Science-Fiction, ein Horrorgemälde aus Terrorgefahr, Gentrifizierung und Ausnahmezustand. Welche Ironie, dass die Protagonisten des Nein – allen voran die Linke – schon das Hier und Heute ganz schrecklich findet. Nur der Wandel schreckt sie offenbar noch mehr.

Diese Unfähig- oder Unwilligkeit zum Morgen könnte sich in Deutschland in den kommenden Jahren noch verstärken: Es ist kein Zufall, dass eine zukunftsverzagte Gesellschaft so wenige Kinder hat. Und je weiter sich die Demografie verändert, desto wichtiger das Heute wird, umso nebensächlicher das Morgen. Ein Treiber des Fortschritts war stets die Hoffnung, dass es den Kindern einmal besser gehen soll. Doch was treibt eine Gesellschaft, in der viele keine Kinder mehr haben? Immer mehr Besitzstandswahrer treffen dann auf immer weniger Reformer.

Diese Zukunftsvergessenheit schlägt massiv auf die Politik durch – gerade in Kommunen, die Bürger- und Volksentscheide verbindlich gemacht haben. Unsere Volksvertreter dürfen uns zwar noch auf ein paar Nebenkriegsschauplätzen vertreten, bei den großen Fragen etwa zur Stadtentwicklung aber entscheidet das Volk. Und das eben ganz anders als seine Vertreter: 2010 stimmten 100 Prozent der Parlamentarier in der Hamburger Bürgerschaft für die Einführung der Primarschule, 54,5 Prozent des Volks votierte dann dagegen. Den Rückkauf der Netze 2013 wünschte nur eine Minderheit von nicht einmal 20 Prozent der Bürgerschaft, aber 51 Prozent der Bürger. Für Olympia waren sogar – abgesehen von der Linkspartei und der AfD – 85 Prozent der Volksvertreter. Im Volk dachten nur 48,6 Prozent genauso.

Ein Korrektiv der Parlamente durch Volksentscheide ist klug und sinnvoll, ein Imperativ unterspült aber mittelfristig unsere repräsentative Demokratie. Schon jetzt schmälert die direkte Demokratie die Attraktivität der parlamentarischen Arbeit, weil es weniger zu entscheiden gibt. Immer weniger Menschen stellen sich der aufreibenden inhaltlichen und parteiinternen Arbeit in den Parlamenten. Wer nur ein Thema hat, kann schneller und zielgerichteter dieses Thema beackern und über eine Volksinitiative, ein Volksbegehren bis hin zum Volksentscheid zum Ziel gelangen. Wer geht da noch in die Politik?

Manchmal – das zeigt der Entscheid – muss man gar nicht viel tun. Das Referendum war eine Idee des Senats, die Gegner von NOlympia blieben bei allem Engagement Einzelner in der Debatte eher unscheinbar, während Befürworter wie die Gebrüder Braun die Stadt eindrucksvoll mitgerissen haben oder die Ottos viel Geld in die Hand genommen haben. Sie haben viel gegeben und ein Nein bekommen.

Deutlicher kann man Menschen, die sich für ihre Vaterstadt und das Gemeinwohl einsetzen, nicht abwatschen. Ob sie noch einmal Feuer und Flamme für eine Sache sein werden? Ob sie sich beim nächsten Mal einbringen und investieren werden oder lieber dorthin gehen, wo man Risiken wagt?

Auch die Politik in Stadt und Land wird ihre Lehren aus Hamburg 2015 ziehen. Großprojekte sind seit diesem Sonntag politisch offenbar nahezu unmöglich. Das gilt für Großinvestitionen im Allgemeinen und für Olympia im Besonderen. Was für eine bittere Ironie der Geschichte: Da schickt sich ein Deutscher in Person von Thomas Bach an, das verkrustete IOC aufzubrechen und bekommt mit der Hamburger Bewerbung eine Blaupause für seine Reform. Und dann lehnen die Deutschen sie ab, eben weil das IOC so verkrustet ist. Olympische Spiele werden in Deutschland auf Sicht unmöglich sein. Fortan steht jede Großveranstaltung jenseits des Straßenfestes, jede Großinvestition jenseits eines Spaßbades unter Generalverdacht.

Auch wo keine Volksabstimmung droht: Wer Sympathiepunkte und Stimmen sammeln möchte, unterlässt am besten alles, was größer ist als das kleinste Karo. Mit dieser Politik hätte man sich nicht nur eine Elbphilharmonie gespart, sondern in der Vergangenheit eben auch die HafenCity, die Universität, den Hafen.

Mit dieser Handlungsrichtlinie der Politik steuert der Staat aber mittelfristig in den Stillstand und langfristig in den Untergang. Von Erich Fried stammt der schöne Satz „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt“. Dieser Satz, der heute den Mehltau in Deutschland beschreibt, hatte Fried einst auf das Wettrüsten bezogen.

Apropos Wettrüsten: Der von fast jedem Deutschen so geschätzte Altkanzler Helmut Schmidt hatte in fester Überzeugung gegen das Volk und die Partei entschlossen, an der Nato-Nachrüstung festzuhalten. Er verlor das Kanzleramt, seine Partei, seine politischen Freunde – doch die Geschichte gab ihm recht. Damals gab es auch keine Referenden. Und noch etwas schrieb der Hamburger den Deutschen ins Stammbuch: „Je mehr direkte Entscheidungen durch das ganze Volk, um so unregierbarer das Land.“

Doch der Geist ist aus der Flasche – und kehrt dorthin nicht wieder zurück. Bislang mögen die Ergebnisse der Referenden mit dem Rückkauf der Netze, der Ablehnung von Schulreform und Olympia noch überschaubar scheinen, doch das kann sich ändern. Was, wenn plötzlich angesichts einer sich radikalisierenden Gesellschaft das Volk ganz andere Fragen entscheiden darf: Beim Zuzug von Migranten, der Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften oder dem Bau von Moscheen etwa darf man das „Nein“ schon einplanen.

Auf die „Elite“ darf man nicht hoffen – die Abstimmungen über Olympische Spiele in München und Hamburg haben gezeigt, dass kein Bündnis breit genug sein kann: Sportler, Künstler, die Wirtschaft und die breite parlamentarische Mehrheit warben eindringlich für ein Ja und kassierten ein krachendes Nein.

Viel mehr Konfliktpotenzial birgt das tiefe Misstrauen gegen die „Elite“

Wer sich im Internet, in sozialen Netzwerken und Foren umtut, ahnt warum: Hier werden mitunter Befürworter diskreditiert, abstruse Verschwörungstheorien konstruiert und Lappalien zum Spitzenthema aufgebauscht. Oft geht es nicht um Argumente, sondern um Vermutungen, nicht um Fakten, sondern Halbwissen, nicht um Austausch, sondern Unterstellungen. Da wird allen Ernstes bei der Frage nach Olympia eifrig diskutiert, warum es während der Spiele besondere Fahrspuren für das IOC gibt. Damit korrupte Funktionäre schneller in den Puff kommen? Oder damit Sportler und Medienvertreter rechtzeitig zu den Kämpfen gelangen?

Diese verkürzte und zugespitzte Sicht auf die Dinge, die nun offenbar in einer Mehrheit gegen die Spiele mündete, muss alle nachdenklich stimmen, egal ob sie für oder gegen Olympische Spiele sind. Das tiefe Misstrauen gegen die „Elite“, gegen politische Entscheidungen und wirtschaftliche Interessen birgt viel mehr Konfliktpotenzial als die bloße Frage nach Olympia.

Sommerspiele gibt es nur einmal. die kommen auf Jahrzehnte nicht mehr nach Deutschland! Aber die nächste Volksabstimmung, die kommt bestimmt.


Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Hamburg