Die Ganztagsschule soll mit der Haupt- und Realschule Tieloh und dem Emil-Krause-Aufbaugymnasium fusionieren.

Hamburg. Auf dem großen Schild am Schulzaun hat die Zukunft schon angefangen: "Neue Stadtteilschule Barmbek" steht da - weiß auf rot. Drinnen, hinter der strengen Rotklinker-Fassade der Schule Fraenkelstraße in Barmbek, erzählt llliassa, 17, von ihrem Traum. "Ich möchte später studieren. Am liebsten Medizin." Madina, 16, sitzt neben ihr und nickt. Beide stammen aus Afghanistan, beide besuchen die zehnte Klasse, haben exzellente Noten und können auf einen guten Realschulabschluss hoffen. Danach wollen sie Abitur machen. "Damit hat man mehr Chancen", sagt Madina. Klar meldeten sich auch immer mal wieder die Zweifel, ob sie es schaffen können. "Es wird bestimmt ganz schön schwierig", sagt Illiassa. "Aber wir kennen ja die Schule und wissen, was uns erwartet."

Denn obwohl Illiassa und Madina eine Haupt- und Realschule besuchen, können sie Abitur machen, ohne die Schule zu wechseln - eben an einer Stadtteilschule. "Endlich", sagt Schulleiter Björn Lengwenus, 38. "Ich bin sehr froh, dass wir nach den Sommerferien offiziell Stadtteilschule sind." Seit Monaten laufen die Vorbereitungen für die Fusion der Ganztagsschule unweit des Stadtparks mit der Haupt- und Realschule Tieloh und dem Emil-Krause-Aufbaugymnasium. Schon im Dezember haben die drei Standorte eine symbolische Gründungsfeier veranstaltet. "Wir hatten den Eindruck, dass die Stadtteilschule in dem Streit um die Schulreform in Vergessenheit gerät, und wollten ein Zeichen setzen", sagt Lengwenus.

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Es herrscht Aufbruchstimmung in Barmbek. Im nächsten Schuljahr werden insgesamt 1000 Schüler an der neuen Schule lernen. Anders als die Primarschule ist die neue Schulform, die aus den heutigen Haupt- und Realschulen sowie Gesamtschulen hervorgeht und in 13 Jahren zum Abitur führt, nicht davon abhängig, wie der Volksentscheid am 18. Juli ausfällt. Insgesamt 51 Standorte sieht der Schulentwicklungsplan vor. Gründungstermin ist laut Schulgesetz der 1. August.

"Wir fühlen uns aber schon als Stadtteilschule", sagt Schulleiter Lengwenus. Er ist einer von denen, die voll hinter der Schulreform von Bildungssenatorin Christa Goetsch (GAL) stehen. Auch wenn er künftig nicht mehr Schulleiter ist, sondern nur noch Abteilungsleiter des Standorts Fraenkelstraße. "Längeres gemeinsames Lernen ist der Schlüssel für mehr Bildungsgerechtigkeit", sagt er. Seit 2007 leitet der umtriebige Pädagoge die Ganztagschule im Barmbeker Norden mit 270 Schülern und 22 Lehrern. "Schule ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie muss im Stadtteil verankert sein, darf sich nicht abschotten", erklärt er seine Maxime - und meint es durchaus politisch. Inzwischen hat er einiges verändert. So werden die Schüler schon seit zwei Jahren nicht mehr in Haupt- und Realschulklassen geteilt, sondern gemeinsam unterrichtet. "Das ist ein erster Baustein Richtung längeres gemeinsames Lernen."

Montagvormittag, 3. Stunde, Deutsch in der 8. Klasse. Es geht, ganz im Zeichen der Fußball-Weltmeisterschaft, um Südafrika. Die 21 Schüler sitzen in langen Reihen, Haupt- und Realschüler bunt gemischt. Die Gardinen sind gelbgrau. Die Topfpflanzen kurz vor dem Vertrocknen. Die Wanduhr ist um 7.42 Uhr stehen geblieben - die Zeit nicht. An der Tafel ein Überbleibsel aus der letzten Stunde, es geht um Gewalt in der Schule. Jetzt aber sollen die Jugendlichen etwas zu Nelson Mandela sagen. Lehrer Dietrich Walch, 59, hat Zeitungsartikel kopiert. Die Aufgabe: lesen, zusammenfassen, interpretieren. Pädagogen nennen dies das Textverständnis vertiefen. "Gibt es ein Wort, das ihr nicht versteht?", fragt Walch, ein Mann mit langer Berufserfahrung und klar strukturiertem Lehrstil. Er weiß: Nach einer halben Stunde sackt die Konzentration weg. "Würdenträger, was ist das?", fragt ein Mädchen. Es stammt aus einer türkischen Familie, insgesamt gibt es in der Klasse elf Nationalitäten.

Zum Schluss gibt es unterschiedlich schwere Arbeitsaufträge für Gruppe A (Realschüler) und B (Hauptschüler). "Ihr könnt wählen, was ihr machen wollt, und euch gegenseitig helfen", sagt Walch. A-Schüler Julian, 14, nimmt das schwierigere Thema und bekommt Applaus dafür, wie er einen der Texte in Ich-Form umgeschrieben hat. Katharina, 14, die zu den Hauptschülern gehört, hat eine Liste mit Informationen aus dem Text gemacht. Beifall auch für sie.

Kurz danach beginnt die Pause. "Ich finde es gut, dass wir alle zusammen sind", sagt Kimberley, 13. Die Leistungsunterschiede spielten kaum eine Rolle. Schließlich könne man sich ja auch gegenseitig helfen. Auch Julian kann sich nichts Besseres vorstellen, obwohl er sagt: "Manchmal ginge es schneller, wenn wir getrennt wären." Trotzdem: Auf die Stadtteilschule freuen sich hier alle. "Es ist gut, weil dann auch Hauptschüler leichter Abitur machen können", sagt Sami, 14. "Das würde ich auch gern schaffen." Katharina nickt. Sie hat schon eine wechselvolle Schullaufbahn hinter sich: erst auf einem Gymnasium, dann auf einer Realschule und nun an der Fraenkelstraße. "Ich habe weiter das Ziel, Abitur zu machen", sagt sie, bevor sie in die nächste Unterrichtsstunde abzischt.

Auch unter den Lehrern gibt es viel Zustimmung für die Schulreform. "Gerade in einem Stadtteil wie Barmbek ist eine Stadtteilschule mit längerem gemeinsamen Lernen eine Chance für die Schüler", sagt Lehrer Walch. Früher sei das Abitur für die meisten eine unüberwindbare Hürde gewesen, das Wort Gymnasium quasi ein Schimpfwort. "Inzwischen sind die Gräben zugeschüttet, auch bei den Pädagogen."

Ist also gar nichts dran an den Unkenrufen, die die Stadtteilschule als Resteschule sehen? "Wir haben für das nächste Schuljahr sogar mehr Anmeldungen", sagt Schulleiter Lengwenus. An den Standorten Fraenkelstraße und Tieloh starten insgesamt 60 Schüler in drei 5. Klassen. Sonst waren es in der Regel nur zwei. "Wir haben uns inhaltlich entschieden zu der neuen Schulform bekannt und auch deutlich gemacht, was möglich ist. Das hat gewirkt." Es gebe auch einige Schüler, die früher von ihren Eltern aufs Gymnasium geschickt worden wären. Entscheidend aus seiner Sicht: Das Abitur an der Stadtteilschule werde sich durch die zentralen Prüfungsanforderungen in der Qualität nicht von einem gymnasialen Abschluss unterscheiden. Zudem gebe es einiges, was Schüler eher an der Stadtteilschule geboten werde: Entschleunigung durch ein zusätzliches Schuljahr, kleinere Klassen, Berufsorientierung unter Einbeziehung der Berufsschulen und mehr soziale Kompetenzen. In der Fraenkelstraße kommt noch der Ganztagsbetrieb von 8 bis 16 Uhr dazu. Und was ist, wenn nach der Einführung der Primarschule die 5. und 6. Klassen an der Stadtteilschule wegfallen? "Wir arbeiten schon jetzt sehr gut mit unserer Nachbarschule zusammen", sagt Lengwenus und schiebt noch hinterher: "Ich glaube, dass das Hamburger Modell erfolgreich sein wird."

An der Stadtteilschule Barmbek sind die Ausgangsvoraussetzungen gut. Auch weil sie durch das Emil-Krause-Gymnasium sofort mit der Stadtteilschuloberstufe starten kann. "Wir sind vorbereitet", sagt Bernd Tißler, derzeit noch stellvertretender Schulleiter des Gymnasiums und künftig in derselben Position an der Stadtteilschule. Ihm liegt besonders der Übergang zwischen zehnter und elfter Klasse am Herzen. "Das ist eine wichtige Nahtstelle." Bislang mussten die Schüler für den Übergang einen Notenschnitt von 3 in den Kernfächern vorweisen, künftig reicht die Versetzung. Für das Schuljahr 2010/11 haben sich 180 Schüler an der gymnasialen Oberstufe der neuen Stadtteilschule angemeldet.

Aber die Reform bedeutet auch Abstriche. Im Sommer gibt es keine neuen siebten Klassen mehr. "Die bleiben ja jetzt auf der Stadtteilschule", sagt Tißler. Jahr für Jahr wachsen die Jahrgänge dann aus dem bisherigen System heraus. Das bedeutet auch für die Lehrer große Veränderungen. Für Pia Ljungberg, 32, zum Beispiel. Die Gymnasiallehrerin für Deutsch und Französisch wird künftig mit einem Teil ihrer Stunden an den Standorten Fraenkelstraße und Tieloh unterrichten. Doch während das Pendeln zwischen verschiedenen Schulen an anderen Gymnasien auf massive Ablehnung stößt, sagt die junge Studienrätin:"Ich freue mich schon darauf." Zwar habe sie anfangs durchaus Vorbehalte gehabt, inzwischen sei sie überzeugt. "Die Schüler sind sehr wissbegierig." Künftig sollen neben Französisch auch Spanisch, Russisch und Polnisch in der Mittelstufe angeboten werden. Auch in den Naturwissenschaften werden Gymnasiallehrer unterrichten.

"Für unsere Schüler eröffnet das völlig neue Möglichkeiten", sagt die Elternratsvorsitzende Regina Römer, 45. Die Zustimmung der Elternschaft sei groß, auch weil Spätzünder oder Kinder, die langsamer lernten, eine Chance bekämen. So wie ihr Sohn Florian, 16. "Der hat erst in der zehnten Klasse einen richtigen Schub gemacht. Jetzt überlegt er, ob er statt einer Ausbildung vielleicht doch Abitur machen soll." Wenig Verständnis hat die Elternvertreterin dagegen für die Gegner der Schulreform. "Ich verstehe nicht, warum die sich nicht einigen konnten. Jetzt wird viel Geld für den Volksentscheid ausgegeben, das man hätte in die Bildung stecken können", schimpft sie.

Inzwischen ist es 12.30 Uhr. Der Gong ruft zur Mittagspause. Überall gehen die Türen auf, die Schüler stürmen Richtung Cafeteria. Auch die Achtklässler stehen schon in der Schlange. Es gibt Curry-Bratnudeln. "Danach haben wir Arbeitszeit im Computerraum", sagt Julian. Sie sollen Informationen zur Geschichte Südafrikas suchen.

Auch die Zehntklässlerinnen Illiassa und Madina haben Pause. Beim Weg zur nächsten Unterrichtsstunde müssen sie vorbei an bunten Plakatwänden. "Wer die Höhe überwindet, dem Team vertraut, sich Herausforderungen stellt, Applaus erntet, Niederlagen verkraftet oder Schönheit genießt, der weiß, wie er sein Leben gestalten kann", steht auf einem. Das Leitmotiv der Schule und viel Heimat für die Mädchen. Ein wenig mulmig ist ihnen schon, wenn sie daran denken, dass sie nach den Sommerferien Oberstufen-Schülerinnen sind - und auf dem Weg zum Abitur. "Aber es ist einfacher als für die Schüler vor uns", sagt Madina. "weil wir auf der Stadtteilschule bleiben können."