600.000 Zuschauer bei Vattenfall Cyclassics. Veranstalter drängt auf Bewerbung für 2018.

Hamburg. Bei der letzten Linkskurve innen bleiben, früh in den Wind gehen und dann den Sprint auf der leicht ansteigenden Mönckebergstraße von vorn fahren: Marcel Kittel wollte sich das noch einmal erklären lassen von seinem Freund und Teamkollegen John Degenkolb, der im vergangenen Jahr auf diese Weise die Vattenfall Cyclassics gewonnen hatte. Doch als das Profifeld am Sonntag bei der 19. Auflage des einzigen deutschen Radrennens von Weltrang dem Ziel entgegenflog, war es für den Sprintkönig der Tour de France bereits verloren.

Leider habe ihn seine Giant-Shimano-Mannschaft nicht wie gewünscht nach vorn fahren können, sagte er. Platz sechs – „mehr war nicht drin heute“. Stattdessen konnte der Erfurter aus der Distanz beobachten, wie Alexander Kristoff Degenkolbs Siegtaktik detailgetreu kopierte. Der Norweger vom russischen Team Katusha gewann den Massensprint vor dem Italiener Giacomo Nizzolo und Simon Gerrans aus Australien und bewies, dass er nach Frühform (Sieg bei Mailand–Sanremo im März) und Hochform (zwei Etappensiege bei der Tour im Juli) auch eine beachtliche Spätform zu bieten hat. Hamburg, sagte Kristoff, sei schon immer eines seiner bevorzugten Rennen gewesen. „Jetzt ist es mein Lieblingsrennen.“

Das gilt sicherlich auch für etliche der 17.500 Jedermannfahrer, die sich früh am Sonntagmorgen aufs Rad geschwungen hatten. Angemeldet waren rund 4000 mehr, doch offensichtlich ließ die Wettervorhersage viele vor einem Start zurückschrecken. So blieb die Teilnehmerzahl um etwa 1000 hinter dem Vorjahresniveau zurück.

Veranstaltungsleiter Frank Bertling von der Hamburger Agentur Lagardère war darüber aber nur bedingt traurig: „Es war dadurch auf der Strecke spürbar entspannter.“ Zudem hätte sich die Prognose bestätigt, wonach die Teilnehmer ihre Fahrweise den Witterungsbedingungen anzupassen wüssten. 65 Hilfeleistungen, 41 Rettungswagen- und sieben Notarzteinsätze liegen eher am unteren Ende der üblichen Zwischenfallzahlen. Schwere Verletzungen wurden zum Glück nicht vermeldet. Der Sturz André Greipels war wohl noch einer der heftigeren. Der Rostocker Sieganwärter rutschte 78 Kilometer vor dem Ziel auf einer Fahrbahnmarkierung aus und trug nicht nur einen gebrochenen Lenker davon, sondern auch Schürfwunden, die ambulant versorgt wurden. Den Anschluss an die Führungsgruppe konnte Greipel danach nicht mehr herstellen.

Besucher verhindern schweren Unfall auf dem Rathausmarkt

Dass es keinen schwereren Unfall gab, war auch den Hamburger Zuschauern zu verdanken. Kurz vor dem heranrauschenden Profifeld räumten sie am Rathausmarkt mehrere mit Werbetafeln behangene Absperrgitter beiseite, die vom Wind auf die Strecke geweht worden waren. Die anwesenden Ordnungskräfte hatten keine Anstalten dazu gemacht. Es blieb der einzige überlieferte organisatorische Makel einer ansonsten wieder gelungenen Veranstaltung. Dass diesmal nur 600.000 Zuschauer gezählt wurden, ein Viertel weniger als im Vorjahr, dürfte dem Wetter zuzuschreiben sein.

Bertling hat sich dennoch vorgenommen, dem in die Jahre gekommenen Rennen für die Jubiläumsauflage am 23. August 2015 ein „Facelifting“ zu gönnen. Gedacht ist an eine andere Streckenführung, die auch „neue Regionen“ für die Cyclassics erschließt. Das wäre dann in der Tat ein recht radikaler Eingriff. Seit der Premiere 1996 war bis auf eine Richtungsänderung auf der Südschleife keine größere Kurskorrektur vorgenommen worden. Es fehlte schlicht an der Notwendigkeit. Anders als viele andere deutsche Kriterien sind die Cyclassics auch ohne lange Tradition weitgehend unbeschädigt durch die Krisenjahre des Radsports gerollt. Als reines Profirennen hätten wohl auch sie nicht überlebt. Inzwischen sieht Bertling die Talsohle durchschritten, ermutigt durch die Erfolge der deutschen Fahrer und das wieder aufkeimende Fernsehinteresse: „Der Radsport hat gelitten, aber wir sind auf gutem Weg.“

Vom Weltverband UCI bekommt Lagardère ohnehin alljährlich erfreuliche Rückmeldungen. Warum also nicht das Thema WM-Bewerbung wieder auf die Agenda setzen? Sportsenator Michael Neumann (SPD) hatte das erst am Donnerstag zumindest nicht kategorisch ausgeschlossen. Im Zuge der Olympiabewerbung will man sich offenbar eine Option auf Großveranstaltungen auch jenseits der Schwerpunktsportarten Rudern, Hockey, Schwimmen und Beachvolleyball offenhalten.

Bertling hat die Stadt am Sonntag noch einmal in die Pflicht genommen: „Sie ist aufgefordert, sich ernsthaft mit dem Thema einer Straßenrad-WM auseinanderzusetzen und Zahlen auf den Tisch zu legen.“ Die möglichen Kosten sind in etwa bekannt. Sechs bis sieben Millionen Euro Steuergelder müssten aufgewendet werden, zwei bis drei Millionen Euro mehr als für die Ruder-WM 2019, an der Hamburg bereits offiziell Interesse angemeldet hat. Bertling sieht das als lohnenden Mehraufwand: „Ich bin mir sicher, dass wir mit Radsport einen deutlich höheren medialen Gegenwert erhalten als fürs Rudern.“

Der früheste Termin wäre 2018. Die WM 2017 wird im Oktober vergeben, zu kurzfristig, um noch ein tragfähiges Bewerbungskonzept zu entwickeln. Ein paar grundsätzliche Überlegungen wurden bereits angestellt: Die WM-Rennen würden auf mehrere Stadtteile oder Regionen verteilt, um die Belastung für die Innenstadt möglichst gering zu halten.