Auch in Zeiten schlimmster Barbarei gibt es kleine Lichter der Hoffnung. Eine junge Hamburgerin bleibt auch im Angesicht des Naziterrors an der Seite ihres jüdischen Ehemanns. Eine Serie von Matthias Gretzschel und Sven Kummereincke.

Simon Krim genießt die fast menschenleeren Straßen. Es ist ein bitterkalter Abend, und es ist auch mitten im Grindelviertel stockduster; niemand traut sich, gegen die Verdunkelungsvorschriften zu verstoßen. So ist es nur hier und da ein Lichtschein, der aus manchen Fenstern durch die Vorhänge auf die Straße gelangt. Simon Krim friert, und er ist hungrig, doch jetzt beginnt für ihn die schönste Stunde des Tages: Seine Frau Ida hat sich bei ihm eingehakt, und wenn sie nach 20 Minuten den Innocentiapark erreichen und dort ihre Runden drehen, dann fühlt es sich fast so an, als wären sie ein normales Ehepaar, das in einer normalen Stadt einen abendlichen Winterspaziergang unternimmt. Simon Krim mag den Winter, das heißt: Er mag die Dunkelheit. Dann geht er gern mit Ida oder seinem Sohn Kurt spazieren. Denn so begegnen ihm nur wenige Menschen, und die sehen einen 67-jährigen Herrn in Begleitung einer Dame oder eines jungen Mannes – der gelbe Judenstern auf seinem Mantel ist kaum sichtbar.

Doch an diesem Mittwoch will der Selbstbetrug nicht recht funktionieren. Simon Krim ist ohnehin wortkarg, heute mag er gar nicht reden. Ida respektiert sein Schweigen, sie weiß, dass jedes Wort eines zu viel wäre. Es ist der 14.Februar 1945. In 15 Minuten, um Punkt 20 Uhr, müssen die beiden zurück im „Judenhaus“ in der Bornstraße 22 sein – dann beginnt die Ausgangssperre für „Nicht-Arier“. Doch die beiden denken den ganzen Tag an Berthold Rosenberg, der an diesem Abend nicht zurückkehren wird. Heute Morgen musste der 61-Jährige zum Sammelplatz vor dem Logenhaus, dann wurde er zum Hannoverschen Bahnhof gebracht und mit Dutzenden anderen in einen Güterwaggon gepfercht. Wenn er Glück hat, muss er nur zwei Tage darin ausharren, bevor der Zug in Theresienstadt ankommen wird.

Als das Ehepaar an dem Zimmer vorbeikommt, in dem Rosenberg mit drei anderen gewohnt hat, sieht Krim seine Frau an: „Warum er und nicht ich?“ Sie haben viele Gemeinsamkeiten. Beide sind mit „arischen“ Frauen verheiratet. Die Gestapo hat immer wieder immensen Druck auf Henni Rosenberg und Ida Krim ausgeübt, damit sie sich scheiden lassen – doch die beiden mutigen Frauen sind standhaft geblieben und lieber mit ihren Männern ins Judenhaus gezogen, als sie im Stich zu lassen. Im NS-Staat handelt es sich damit um „privilegierte Mischehen“. Ein Status, der beide Männer davor bewahrt hatte, in die Vernichtungslager geschickt zu werden. Bis heute morgen.

Simon Krim weiß, dass der Krieg bald zu Ende sein wird. Umso größer ist seine Sorge, dass fanatische Nazis kurz vor dem Ende auch noch die letzten Juden ermorden werden. Als sie vor der Tür zu ihrem Zimmer stehen, nimmt Ida die große Hand ihres Mannes und drückt sie so fest, dass es ihr wehtut. Noch nie hat er eine so große Dankbarkeit verspürt wie in diesem Moment.

Simon Krim hat die ersten 56 Jahre seines Lebens auf der Sonnenseite gestanden. 1877 in Galizien geboren, kommt er im Alter von elf Jahren mit seinen Eltern nach Wandsbek. Den technik- und fortschrittsbegeisterten jungen Kaufmann faszinieren die ersten Automobile, und so gründet er 1906 sein eigenes Autohandelshaus. Ab 1908 bietet er die Fahrzeuge an erster Adresse an: am Alsterdamm, der später in Ballindamm umbenannt wird.

Der Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg bleibt ihm erspart: Er wird dienstuntauglich geschrieben und meldet sich als Kraftfahrer für die Sanitätskolonne. Wie Millionen andere zeichnet er Kriegsanleihen, tauscht Gold gegen Eisen, leidet Hunger in den Wintern.

Nach dem Krieg geht es mit dem Autohandel bergauf, seine Kunden kommen aus den besten Kreisen. Den jüdischen Glauben hat er nie praktiziert, die Mutter seines Sohnes Kurt, der 1921 geboren wird, und seine dritte Frau Ida sind Christinnen. Krim konzentriert sich auf sein Geschäft, das ihn zum angesehenen und sehr wohlhabenden Mann gemacht hat. Und er ist großzügig: Der Schwester seiner Frau etwa finanziert er den Lebensunterhalt.

Als die Nazis 1933 an die Macht kommen, verschwendet Krim keinen Gedanken an Auswanderung. Weder als es Boykottaufrufe gibt („Kauft nicht bei Juden“), noch als die Rassegesetze 1935 verabschiedet werden. Und auch nicht als er 1936 sein Geschäft aufgeben muss und 1938 die Synagogen brennen und bald darauf das Vermögen aller Juden beschlagnahmt wird. Von einen Tag auf den anderen sind die Krims verarmt. Und immer drängender werden die Forderungen der Gestapo, Ida Krim solle ihren Mann verlassen. Doch der Satz „in guten wie in schlechten Tagen“ ist für sie keine leere Floskel. Sie verdient als Vorführdame den Lebensunterhalt.

Trotz allen Hasses, der den noch etwa 7500 in Hamburg lebenden Juden entgegenschlägt, liegt jenseits aller Vorstellungskraft, was noch kommen sollte. Im Oktober 1941 müssen sich 1034 Juden auf dem Platz vor dem Niedersächsischen Logenhaus einfinden. In langen Reihen stehen sie Schlange, warten darauf, dass die Bürokraten des Massenmordes ihre Schicksale abstempeln. Dann, nach einer Nacht im Freien oder auf dem Fußboden im Logenhaus, geht es zum Hannoverschen Bahnhof, es folgt ein tagelanger Transport in fensterlosen Güterwaggons nach Lodz – ohne Toilette, ohne Wasser. Keiner der 1034 wird den Holocaust überleben. Es ist der erste von 17 Hamburger Transporten. Von den 5848 Deportierten überleben nur 233.

Ida und Simon Krim bleiben zunächst unbehelligt. Doch im Februar 1943 bekommen sie die Aufforderung, ihre Wohnung an der Andreasstraße zu räumen und in das „Judenhaus“ an der Bornstraße zu ziehen. Ida Krim kämpft wie eine Löwin dagegen. Sie beschwert sich bei der Gestapo, reist sogar nach Berlin – ohne Erfolg. Im Mai beziehen „Volksdeutsche“ ihre Wohnung, das Ehepaar bekommt das kleine Zimmer im Grindelviertel. Dort wollen die Behörden alle Juden in einer Art Ghetto zusammenziehen, auch um die Transporte in die Vernichtungslager leichter organisieren zu können.

Am Abend des 14.Februar 1945 liegt Simon Krim lange wach. Er denkt an Berthold Rosenberg, wie der in diesem Moment in einem Waggon hockt, irgendwo zwischen Hamburg und Theresienstadt. Er denkt an Bertholds Bruder Ernst, der vor zwei Wochen abtransportiert wurde. Er denkt an die vielen Dutzend anderen, die deportiert wurden, seit er hierhergezogen ist. Und er fragt sich, was – oder wer – ihn bisher gerettet hat. Hält eine der Hamburger Nazi-Größen ihre schützende Hand über ihn? Vielleicht ein früherer Kunde? Oder kommt morgen der Brief, der seine Deportation befiehlt?

Simon Krim kann nur hoffen, dass das Regime bald kollabiert. Hamburg liegt in Trümmern, Amerikaner und Briten stehen am Rhein, Russen an der Oder, es kann nicht mehr lange dauern. Es darf nicht. Je weiter die Alliierten vorrücken, desto größer werden nicht nur seine Hoffnungen, sondern auch seine Ängste, dass Fanatiker noch ein Massaker anrichten könnten. Elf unendlich erscheinende Wochen geht das so. Dann nehmen britische Truppen Hamburg kampflos ein – erst jetzt kann Simon Krim sicher sein, dass er gerettet ist. Erst jetzt kann er ohne Angst um sein Leben einschlafen. Und auch die Rosenberg-Brüder überleben: Die Rote Armee befreit das Lager rechtzeitig.

Krims Blick geht in diesem Frühling 1945 sofort nach vorn: Er will sein Geschäft wiederaufbauen. Er schafft es, einen Lkw zu organisieren, und gründet ein Fuhrgeschäft, bald hat er wieder ein Autohaus, das er mit seinem Sohn Kurt führt. Bis zu 250 Mitarbeiter hat der Betrieb. In den 50er-Jahren wird er entschädigt, seine Frau muss das Geld einklagen. Doch über die dunklen Jahre spricht er mit seinen drei Kindern nicht – es bleibt ein Tabuthema in der Familie. Nicht auffallen, das ist es, was die Familie vor allem will.

Manchmal denkt Simon Krim im Stillen: Was für ein Leben. Geboren unter einem österreichischen Kaiser im heutigen Polen, aufgewachsen unter einem deutschen Kaiser in der preußischen Stadt Wandsbek; er erlebt den Krieg und die Revolution, Demokratie und Weltwirtschaftskrise, Terrorherrschaft, Feuersturm, Besatzungszeit – und dann, endlich: Demokratie, Frieden, Wohlstand. Simon Krim lebt in einem Zeitalter der Extreme. Er stirbt, 88-jährig, 1965 in Hamburg.

Video: Fragen zur hamburgischen Geschichte www.abendblatt.de/historisch

Montag Teil 20: 1946 bis 1962 - Der Tag, an dem Hamburg versank Wenn eigentlich ungeliebte Nachbarn zu Lebensrettern werden

Das Buch zur Serie ist ab sofort im Handel und kostet 24,95 Euro (Abonnenten 21,95 Euro). Es ist auch im Abendblatt-Shop erhältlich: www.abendblatt.de/shop oder unter 040/347-26566