Der Weltkrieg ist grauenvoller, als es sich die Menschen hätten vorstellen können. Die Front ist für die Hamburger weit weg, doch die Auswirkungen sind katastrophal. Als die ersten Menschen verhungern, kommt es zu Aufständen.

Als sie an der Maxstraße vorbeikommen, muss sie sich an dem Haltegriff festhalten. Nicht weil die Straßenbahn durch eine Kurve fährt, Dagmar Böttcher ist schwindlig. Nur leise sagt sie: „Lübecker Straße“, dabei sollte doch jeder im Wagen ihre Ansage hören. Als an der Lübecker Straße vier junge Frauen zusteigen und Fahrkarten brauchen, dauert es eine kleine Ewigkeit, bis sie die 25 Pfennige kassiert hat. Dann nimmt sie die Pfeife in den Mund und gibt das Abfahrtsignal – und kurz wird ihr schwarz vor Augen, wie so oft in den vergangenen Monaten. Seit sechs Stunden ist die 29 Jahre alte Frau jetzt auf ihrer Schicht als Schaffnerin der Linie 2, und das Letzte, was sie gegessen hat, war eine Stulle Graubrot heute Morgen. Dafür hat sie Julius und Otto, ihren beiden Söhnen, eine Scheibe mehr in die Schule mitgegeben. Acht und zehn sind die beiden jetzt, und sie müssen doch noch wachsen. Ob sie nachher nach Schichtende wohl endlich Milch für die Jungs bekommt?

Die Bahn ruckelt am Steindamm entlang, als der Streit der Fahrgäste immer lauter wird. „Gut, dass sie das gemacht haben“, sagt eine sichtlich erregte Frau, vielleicht 50 Jahre alt. „Bei den Bonzen biegen sich die Tische, und uns geben sie vergammelte Rüben.“ Jetzt regt sich ein alter Herr auf: „Ganz gemeine Diebe sind das!“ Und dass man es den Männern im Feld schuldig sei, jetzt Disziplin zu wahren, sagt er noch, bevor wahre Schimpftiraden auf ihn niedergehen. Erst als er am Steindamm aussteigt, beruhigen sich die Leute langsam wieder.

Den ganzen Tag schon sieht Dagmar Böttcher solche Szenen. Und den ganzen Tag schon fährt sie an den Geschäften vorbei, die geplündert wurden. Bäckereien, Milchgeschäfte, Schlachter, immer wieder sind eingeschlagene Schaufensterscheiben zu sehen. Es ist der 27. Februar 1917, und in Hamburg toben die schlimmsten Hungerunruhen seit Ausbruch des Krieges vor zweieinhalb Jahren.

Dagmar Böttcher ist eigentlich froh über ihre Arbeit. Seit einem Dreivierteljahr ist sie Straßenbahnerin – wie so viele Frauen, die die Lücken schließen müssen, seit fast alle wehrfähigen Männer an der Front stehen. Bei der Arbeit ist sie abgelenkt: vom Hunger, der ihr ständiger Begleiter geworden ist, von der Sorge um ihre Jungs – und von der Trauer um ihren Karl. Sieben Monate und 16 Tage ist es jetzt her, seit die beiden uniformierten Männer mit den betont ernsten Gesichtern vor ihrer Tür standen. Sie wusste es sofort. „Karl ist tot“, hatte sie gesagt, noch bevor der Reserveleutnant und der Oberfeldwebel vom Reserve-Infanterie-Regiment 76 auch nur grüßen konnten. Wenn Soldaten an der Tür klingeln, dann kann das nur einen Grund haben, das wissen alle Frauen und Mütter, deren Männer und Söhne an der Front sind. Die Beileidsbekundungen hatte sie gar nicht mehr richtig wahrgenommen, und die Worte vom Heldentod an der Somme und vom ewigen Dank des Vaterlands kamen ihr so unwirklich vor, dass sie nachher nicht sicher war, ob sie wirklich gesagt wurden. Seit diesem 11. Juli 1916 verflucht sie die Welt mit ihren Kriegen und betet zu Gott, dass er ihre Söhne beschützen möge.

Als die Straßenbahn am Dammtor vorbeifährt, sieht Dagmar Böttcher Truppen aufmarschieren. Die Obrigkeit ist extrem beunruhigt, weil die Plünderungen nicht nur in den Arbeitervierteln, sondern auch in Eppendorf, Winterhude und Eimsbüttel zunehmen. Sogar Gymnasiasten und Oberrealschüler haben sich daran beteiligt. Ein Mann, der Hoheluft zusteigt, erzählt von Bäcker Dahlmann in Ottensen. „Der hat gebettelt, sie sollen seine Scheiben einwerfen, damit die Polizei nicht denkt, er macht gemeinsame Sache mit den Arbeitern.“

Die Rückfahrt nach Wandsbek ist Dagmar Böttchers letzte Tour für heute. Die Diskussionen werden immer erregter, die Stimmung immer angespannter. Manche fluchen geradezu hasserfüllt auf „die Bauern – die schaffen weg und verkaufen heimlich an die Reichen“.

Es ist 17.30 Uhr, als sie von der Wandsbeker Chaussee links in den Peterkampsweg einbiegt und schon aus der Ferne ihre beiden Jungs sieht, wie sie sich mit den Nachbarskindern eine Schneeballschlacht in der Dämmerung liefern. Sie muss lächeln und beneidet diese Kinder, die auch einem so schrecklichen Winter schöne Seiten abgewinnen können. „Essen in 30 Minuten“, ruft sie ihnen tapfer zu. Doch sie ist wütend, dass es wieder keine Milch gab – nach einer Dreiviertelstunde Anstehen.

Dagmar Böttcher geht ins Treppenhaus in der Nummer 23. Essen. Das heißt Steckrüben. Wie gestern. Und vorgestern. Und all die Tage zuvor. Selbst im Brot sind Steckrüben. Im dritten Stock geht die Tür von der alten Rademehl auf. Sie mag die fast 80-jährige Frau sehr, denn sie passt oft auf die Kinder auf, wenn sie arbeiten muss. Heute aber würde sie sie am liebsten küssen, als sie ihr das kleine Stück Hammelfleisch und die Kartoffeln hinhält. „Legen wir zusammen, dann wird das eine richtige Mahlzeit“, sagt sie. Und als Dagmar Böttcher abwehren will, sagt sie nur. „Ist doch für die Jungs, mien Deern. Und ich brauch doch nicht mehr viel.“ Und hat dennoch zu wenig, denkt Dagmar Böttcher. Frau Krause aus dem vierten Stock, die ist im Januar einfach umgefallen. Tot. Und vorige Woche haben sie den alten Hansen aus der 27 rausgetragen. „Die Alten sterben wie die Fliegen“, hatte der Sargträger gesagt.

Als Julius und Otto im Bett sind, holt sie die Kiste oben vom Küchenschrank und nimmt den Brief ganz oben heraus. Sie liest die Worte, ohne richtig hinzusehen, längst kennt sie ihn auswendig. „Mein Dagmarchen! Ich schreibe Dir noch schnell, weil ich nicht weiß, wann ich wieder Gelegenheit habe. Es kann jetzt nicht mehr lange dauern, bis es losgeht. Gleich sind es 45 Stunden, die das Trommelfeuer nun schon dauert. Fritz vom 83., der seit Oktober 14 hier ist, sagt, dass es nie länger als zwei Tage dauert. Dann greifen sie an.

Dagmarchen, Du darfst Dir keine Sorgen machen. Unsere Stellung ist sicher ausgebaut, und bisher haben wir jeden Angriff abgewehrt. Fritz sagt das auch. Und dass ich im September vielleicht Urlaub kriege und wir uns endlich wiedersehen können. Wie geht es den Jungs? Haben sie auch genug zu essen? Und sind sie fleißig in der Schule? Du musst auch mal streng zu ihnen sein, wo ich nicht da bin. Jetzt muss ich Schluss machen. In Liebe, Dein Karl“

In den nächsten 20 Monaten wird es immer wieder zu Protesten und Streiks in Hamburg kommen. Dann endlich, im November 1918, ist der Weltkrieg vorbei. Doch Dagmars Sohn Otto wird noch eineinhalb Jahre später sein Opfer, als der von der schlechten Ernährung geschwächte Junge an der Spanischen Grippe stirbt. Wie Tausende andere in der Stadt und Millionen in ganz Europa. Julius schafft es.

20 Jahre später folgt der nächste lange Krieg. Am 24.September 1944 steht kein Uniformierter vor der Tür, es ist nur ein Brief: Julius Böttcher ist „für den Führer gefallen“. Gemeinsam mit ihrer Schwiegertochter hat sie wieder zwei Kinder durch Krieg und Hunger zu bringen. Und jeden Abend betet sie, dass sie nicht auch noch in einen Krieg ziehen müssen. Doch recht daran glauben, das kann sie nicht mehr.

Video: Fragen zur hamburgischen Geschichte www.abendblatt.de/historisch

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