Von vielen Wohnungsbauprojekten erfahren Anwohner nur per Zufall. Baugenehmigungen werden in manchen Fällen innerhalb weniger Tage von der Behörde erteilt.

Hamburg. Der Anblick ist traurig. Wo vor wenigen Tagen noch eine weit ausladende Platane stand, erinnern nur ein paar Sägespäne an den Baum. Am vergangenen Montag waren die Arbeiter gekommen, hatten die Motorsäge ausgepackt, die Platane innerhalb weniger Stunden abgeholzt. "Dabei hat das Bezirksamt noch vor wenigen Wochen erklärt, dass dieser Baum nicht gefällt werden dürfe", sagt Kirsten Redlich.

Die Museumsangestellte und ihr Mann leben seit 36 Jahren in der Straße Am Hohen Hause in Tonndorf. Von ihrer Wohnung aus haben sie einen schönen Blick auf einen kleinen See und den Wandse-Grünzug. Jetzt fühlen sie sich betrogen. "Wir sind überzeugt, dass die Genehmigung zum Fällen der Bäume erteilt wurde, um das Bauvorhaben unwiderruflich zu machen."

Stein des Anstoßes ist das Vorhaben des städtischen Wohnungsunternehmens Saga, unmittelbar am Rande des Sees auf einer kleinen Grünfläche und einem Kinderspielplatz zwei Wohnhäuser mit insgesamt 42 Wohnungen zu bauen. Zudem ist eine Tiefgarage mit 34 Stellplätzen geplant.

Was die Anwohner besonders fuchst, ist der Umgang des Bezirksamts und der Saga mit ihnen. Von dem Bauprojekt erfuhren sie per Zufall. "Eines Morgens liefen hier Männer über den Rasen, die irgendetwas vermaßen", erzählt Kirsten Redlich. "Als ich sie ansprach, meinten sie, hier würden zwei Wohnhäuser errichtet." Eine Nachbarin wendete sich an das Bezirksamt Wandsbek und forderte ein Mitspracherecht der Anwohner. Zur Antwort erhielt sie eine Mail, in der steht: "In dem vorliegenden Fall ist eine Nachbarbeteiligung ... entbehrlich gewesen."

Recherchen des Abendblatts haben ergeben, dass es in mehreren Bezirken ähnlich gelagerte Fälle gibt. Die Erfahrungen der Anwohner sind stets die gleichen: Sie werden entweder gar nicht oder (zu) spät über Bauvorhaben in unmittelbarer Nähe informiert. Baugenehmigungen werden in manchen Fällen innerhalb weniger Tage erteilt. Wenden Anwohner sich an die Ämter oder die Bauherren, werden sie vertröstet oder informiert, dass ohnehin alles entschieden sei.

Hintergrund ist das von SPD-Bürgermeister Olaf Scholz gegebene Versprechen, jährlich 6000 Wohnungen zu errichten. Die Stadt stellt für den Bau von Sozialwohnungen jährlich rund 100 Millionen Euro zur Verfügung. Die Bezirke wiederum müssen vorgegebene Zielzahlen erreichen.

Dass die zuständigen Behörden und Wohnungsunternehmen dabei Gefahr laufen, die Qualität aus den Augen zu verlieren, hatte unlängst Volker Halbach, der neue Vorsitzende des Bundes der Architekten, im Abendblatt-Interview beklagt. Jeder, der verspreche, Wohnungen zu bauen, habe "eine Art Freifahrtschein", sagte er. Fragt man bei den Bezirken nach, heißt es, Grünflächen sollen möglichst nicht bebaut werden. In der Praxis sieht es oft anders aus - Ausnahmegenehmigungen inklusive.

Am Bartensteiner Weg in Wandsbek beispielsweise plant die Saga, ein viergeschossiges Haus mit 23 Wohnungen zu errichten. Noch vor drei Jahren hatte das Bezirksamt den Bauantrag eines Anwohners mit der Begründung abgelehnt, er stelle eine Abweichung von der eingeschossigen Bauweise dar.

Obwohl mindestens vier Hauseigentümer betroffen sind, wurde nur eine Familie über den geplanten Bau informiert. Dieser Familie wiederum wurde vom Bezirk zwar eine Widerspruchsfrist eingeräumt, die Bauentscheidung dann aber vor Eingang des Widerspruchs getroffen.

Auch in diesem Fall haben die Betroffenen den Eindruck, dass "eine Würdigung der nachbarlichen Interessen ... nicht stattgefunden hat", heißt es in einem Schreiben an das Bezirksamt. Zudem vermuten die Anwohner einen Interessenkonflikt, "da der Begünstigte ein stadteigener Wohnungskonzern ist, welcher die Vorgabe hat, 1000 Wohneinheiten im Jahr zu schaffen". Rechtlich gesehen müssen Bezirksämter und Unternehmen die Anwohner bei einer Nachverdichtung nicht einbeziehen, wenn der Bebauungsplan den Bau von Wohnungen erlaubt. So regelt es der Paragraf 71 der Hamburgischen Bauordnung.

Der emeritierte Politikprofessor Wolfgang Gessenharter - er wird oft gerufen, wenn es bei Bauprojekten zu vermitteln gilt - hält das Wohnungsbauprogramm für richtig. "Es ist aber immer sinnvoll, dort, wo man die Interessen anderer tangiert, auf die Betroffenen zuzugehen und zu versuchen, sie frühzeitig mit ins Boot zu holen." Zudem hätten wissenschaftliche Untersuchungen ergeben: "Je früher die Menschen, die ein Vorhaben betrifft, einbezogen werden, desto geringer sind die Kosten und umso schneller geht es."

In Lokstedt hingegen scheint es schon zu spät. Seitdem vermehrt junge Familien an den Rimbertweg ziehen, ist die Parkplatznot zu einem Problem geworden. Die Schiffszimmerergenossenschaft plant hier den Neubau von 42 Wohnungen. Dafür sollen 116 Garagen und Stellplätze abgerissen werden. Zwar ist auch der Bau einer Tiefgarage vorgesehen. "Am Ende werden aber weniger Parkplätze zur Verfügung stehen", sagt Carolin Dallmeyer.

Die junge Frau ärgert besonders der Umgang der Genossenschaftsführung mit den Mitgliedern. "Es gab keine Kommunikation, geschweige denn, dass wir in die Planungen einbezogen wurden." Es störte Chefs der Genossenschaft auch nicht, dass 70 Prozent der Anwohner sich in Protestschreiben gegen das Vorhaben ausgesprochen hatten. "Wir fühlen uns überrannt."

Eimsbüttels Bezirksamtsleiter Torsten Sevecke sieht in erster Linie die Bauherren in der Pflicht. "Wir raten ihnen, die Anwohner frühzeitig und umfangreich zu informieren", sagt der Amtschef. Eine "offene Kommunikation" mache vieles leichter und verhindere Konflikte bereits im Ansatz.

Angelika Gardiner von "Mehr Demokratie" beklagt dagegen die Zunahme von Etikettenschwindel. "Unter dem Stichwort Bürgerbeteiligung wird von den Bauherren zwar viel gemacht", sagt die Aktivistin, die seit vielen Jahren für Volksentscheide streitet. Aber meist gehe es lediglich darum, die Bürger darüber zu informieren, dass etwas bereits beschlossen sei. Das sei eine Politik des Faktenschaffens, und "die ist unvereinbar mit einer Gesellschaft, die informiert sein will", sagt Manfred Brandt, der mit Gardiner seit Jahren bei "Mehr Demokratie" aktiv ist. Brandt rät betroffenen Anwohnern zudem, sich über die Internetseite "Frag den Staat" auf dem Laufenden zu halten. "Dort können Bürger ihre Fragen an die Behörden richten, und diese müssen - das schreibt das Transparenzgesetz vor - darauf antworten."