Bürgermeister Olaf Scholz spricht über Sorgenkinder der Stadt: Vom Ausreißer Jeremie über die Elbphilharmonie bis hin zur Elbvertiefung.

Für Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) war es eine Woche des Pendelns zwischen Hamburg und Berlin. Mittendrin nahm er sich Zeit für das ausführliche Interview zum Jahresende mit Hamburg-1-Moderator Herbert Schalthoff und Abendblatt-Redakteur Peter Ulrich Meyer.

Hamburger Abendblatt: Kaum ein Fall beschäftigt die Hamburger derzeit so wie der des elfjährigen Jeremie. Das Pflegekind lebte in einem Zirkus, aus dem es mit einem Kleinlaster abhaute und verschwand. Ist es eine gute Idee, ein Pflegekind in einem Zirkus unterzubringen?

Olaf Scholz: Der Sozialsenator hat angekündigt, alle diese Fälle auswärtiger Unterbringung wie zum Beispiel in Zirkussen genau zu untersuchen. Viele Einrichtungen haben es abgelehnt, den Jungen bei sich unterzubringen, sodass die Verantwortlichen unter großem Druck standen, eine geeignete Lösung zu finden. Trotzdem muss jetzt geprüft werden, ob der Zirkus die richtige Lösung ist. Das muss sehr sorgfältig geschehen.

Aber man muss doch sagen, dass es wieder mal ein Fall ist, der, vorsichtig ausgedrückt, nicht optimal gelaufen ist.

Scholz: Ich finde, dass man mit seinen Urteilen nicht zu schnell sein sollte. Das Wichtigste ist, dass der Junge wieder auftaucht. Dann muss geprüft und entschieden werden, wie es mit ihm in Zukunft weitergeht, weil er ja eine sehr schwierige familiäre Situation hat.

Hamburg bezahlt monatlich 7400 Euro für Unterbringung und Betreuung des Jungen. Wie können Sie diese unglaubliche Summe Steuerzahlern erklären?

Scholz: Ich weiß nicht, ob sie erklärbar ist. Deshalb ist es sinnvoll, das alles zu untersuchen. Wir hatten recht, als wir vor einem Jahr angefangen haben, die sehr hohen Kosten der Hilfen zur Erziehung - darum geht es ja - zu diskutieren. Die Maßnahmen, die wir ergreifen, müssen pädagogisch nötig, sinnvoll und hilfreich sein. Das wird ja auch im aktuellen Fall zu Recht diskutiert. Und wir müssen darauf achten, dass nicht Geld in einer Größenordnung ausgegeben wird, die wir weder uns noch anderen erklären können.

Ist das Bezirksamt Hamburg-Mitte, das für Jeremie zuständig ist, für Sie das größte Regierungsrisiko, weil dort alles andere als gut regiert wird?

Scholz: Nein. Der Bezirksamtsleiter macht eine sehr gute Arbeit. Er steht in direktem Kontakt zu den Bürgern und zu seiner Verwaltung.

Es geht bei den spektakulären Fällen - ob Jeremie, Chantal oder Lara-Mia - um das Jugendamt, nicht um die gesamte Bezirksverwaltung.

Scholz: Es gibt einen neuen Leiter des Jugendamtes. Wir verbinden damit und mit den anderen Maßnahmen in der Jugendarbeit die Hoffnung, dass dort Verbesserungen eintreten.

Wie geht es weiter mit der Elbphilharmonie? Mit dem Baukonzern Hochtief oder ohne ihn?

Scholz: Es bleibt dabei: Vor Weihnachten wird entschieden, ob es mit oder ohne Hochtief weitergeht. Eins ist ganz klar: Keine der Lösungen ist ideal. Die Fehler bei der Elbphilharmonie sind am Anfang gemacht worden. Man hat begonnen, ein Gebäude zu bauen, bevor man es fertig geplant hatte.

Reden wir statt über die Vergangenheit über Ihre Amtszeit: Es wurden mehrfach Ultimaten gestellt, die nicht eingehalten wurden. Waren das keine Fehler?

Scholz: Nein. Wir haben vereinbart, wie es weitergehen kann. Das Dach ist abgesenkt. Was man wissen muss: Sowohl die Kündigung der Verträge mit Hochtief als auch die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit dem Unternehmen hat viele komplizierte Folgen. Das alles muss bis zum letzten Punkt ausgelotet sein. Und wenn wir eine Entscheidung treffen, dann muss ich ja nicht nur für zehn Minuten einen guten Eindruck machen, sondern in einem Fünf-Stunden-Interview Ihnen jede Frage beantworten können.

Führt der Baukonzern angesichts des langen Baustillstands den Senat an der Nase herum?

Scholz: Dass die Situation vor allem wegen des Baustillstands nicht gut ist, ist offensichtlich. Das Weitermachen mit Hochtief müsste viele Vorteile bieten, die jedermann einsichtig sein müssen. Wenn das nicht so ist, werde ich diesen Weg nicht beschreiten. Obwohl die Alternative auch nicht einfach ist.

Bei der Elbvertiefung, die vom Bundesverwaltungsgericht vorerst gestoppt worden ist, haben Sie sich mächtig verkalkuliert. Jetzt drängt die Zeit.

Scholz: Wir haben uns nicht verkalkuliert. Wir sind so weit gekommen wie noch niemand zuvor. Als wir die Regierung im März 2011 übernommen haben, war vieles praktisch nicht fertig. Inzwischen gibt es die Zustimmung aus Brüssel sowie von Niedersachsen und Schleswig-Holstein.

Aber Sie sollten jetzt nicht so tun, als ob Sie von vornherein einkalkuliert hätten, dass der Baustopp verhängt wird.

Scholz: Wir haben damit nicht rechnen können. Meine Hoffnung jetzt ist, dass das Gericht schnell abschließend entscheidet. Das können wir erwarten.

Warum haben Sie und der Wirtschaftssenator den Umweltverbänden, die gegen die Vertiefung klagen, die Tür so laut vor der Nase zugeknallt?

Scholz: Falsch.

Sie haben zwar gesagt, wir können über alles reden, aber sofort Bedingungen gestellt, die ernsthafte Gespräche unsinnig erscheinen lassen.

Scholz: Zur modernen Welt gehört es, dass Leute, die etwas gar nicht wollen, sagen, man müsste ja nur einmal mit ihnen reden. Man kann - aus deren Sicht - aber nur erfolgreich mit ihnen reden, wenn man lässt, was man vorhat. Das ist aber nicht unsere Absicht. Wir wollen die Elbvertiefung. Sie ist für unsere wirtschaftliche Entwicklung von zentraler Bedeutung. Eine Halbierung der Elbvertiefung kommt auch nicht infrage. Wir wissen, wie groß und wie tief die Schiffe sind, die nach Hamburg kommen müssen.

Es gibt also keine Gespräche, weil beide Seiten auf ihren Maximalforderungen beharren.

Scholz: Es hat Gespräche gegeben und es finden weiter welche statt. Aber für die Stadt ist auch klar, dass wir die Elbvertiefung wollen.

Droht dem Hamburger Hafen wegen der Konkurrenz zu Rotterdam der Absturz in die zweite oder dritte Liga - ganz unabhängig von der Elbvertiefung?

Scholz: Wenn wir erfolgreich vor dem Bundesverwaltungsgericht sind, können wir die wirtschaftlichen Grundlagen der Stadt für die Zukunft sichern. Die Vorhersagen über das Wachstum des Hafens sind immens.

Es ist unbestreitbar, dass der Verkehr auf den Hamburger Straßen häufig steht. Gehört nicht zum guten Regieren auch, dass der Verkehr fließen muss?

Scholz: Selbstverständlich muss der Verkehr fließen - der Personen- und der Wirtschaftsverkehr. Davon lebt Hamburg. Damit das so ist, müssen wir uns um große Infrastrukturprojekte kümmern: die A 26, die Hafenquerspange oder die Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße. Es geht um viele Dinge, die auf dem Weg sind und die man über lange Zeit zusammen mit dem Bund vorantreiben muss. Gleichzeitig geht es um die Entwicklung des Personenverkehrs. Da haben wir sehr weitreichende Entscheidungen getroffen. Eine ist, dass wir die U 4 bis zu den Elbbrücken verlängern. Eine andere ist der Bau einer komplett neuen S-Bahn-Strecke bis Ahrensburg und Bad Oldesloe.

Wir dachten eigentlich mehr an den täglichen Stau. Das hat etwas mit der Zahl der Baustellen in der Stadt zu tun. Der Eindruck ist, dass die Staudichte zugenommen hat. Kann das auch daran liegen, dass sich der zuständige Senator Frank Horch in erster Linie um wirtschaftspolitische Fragen kümmert, und da speziell um den Hafen?

Scholz: Nein. Wir haben sichergestellt, dass es ein ordentliches Baustellenmanagement gibt. Klar ist aber auch, dass es keine Lösung für folgendes Dilemma gibt: Wenn wir wollen, dass der Verkehr fließt, müssen wir in die Qualität unserer Straßen investieren. Und das bedeutet: Es muss auch Baustellen geben. Wir wollen auch mehr Straßen instand setzen als in den letzten Jahren. Und wir wollen die Fließgeschwindigkeit erhöhen, indem wir den Straßenraum an der einen oder anderen Stelle verändern - übrigens auch zugunsten der Busse. Tut man das alles nicht, kommt irgendwann der Verkehrskollaps. Und das sollten wir vermeiden.

Die Haushaltsberatungen der Bürgerschaft stehen vor der Tür. Es gibt zwei große Unternehmen, an denen die Stadt beteiligt ist, mit unsicherer Zukunft: Hapag-Lloyd und die HSH Nordbank. Wie stabil sind die Fundamente der Hamburger Haushaltspolitik?

Scholz: Stabilität existiert zunächst einmal dadurch, dass wir einen klaren haushaltspolitischen Kurs haben, der sich komplett von dem unterscheidet, was über viele Jahrzehnte in dieser Stadt und auch anderswo gegolten hat. Die Ausgaben dürfen in Hamburg nicht um mehr als ein Prozent pro Jahr steigen. So wollen wir es schaffen, spätestens 2019 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Klar ist, dass in diesem Haushalt Risiken sind, die wir nicht einfach wegzaubern können. Das eine Risiko ist die HSH Nordbank. Der Größenwahnsinn der Jahre vor 2008/09 hat dazu geführt, dass die Bank Kredite aufgenommen hat, die von der Stadt garantiert worden sind. Damit werden wir noch lange zu tun haben. Noch immer beträgt die Garantiehaftung von Hamburg und Schleswig-Holstein mehr als 30 Milliarden Euro. Wenn alles gut geht, haben wir dieses Risiko 2015 auf drei Milliarden Euro reduziert.

Wenn es nicht gut geht, dann ist Hamburg pleite.

Scholz: Ich glaube, niemand hat nach früheren Finanzhilfen der Politik gut daran getan, den Eindruck zu erwecken, als seien alle Probleme gelöst. Es wird wohl noch bis zum Ende des Jahrzehnts dauern, bis wir endlich aufatmen können. Deshalb bin ich bis heute sauer auf die damals Verantwortlichen. Denn sie haben den künftigen Generationen ein großes Risiko aufgebürdet.

Zu Hapag-Lloyd: Das Unternehmen streicht die Dividende in diesem Jahr, die Sie fest eingeplant hatten. Müssen Sie sich jetzt eingestehen, dass Sie sich mit der Erhöhung des städtischen Anteils verkalkuliert haben?

Scholz: Nein. Manche tun so, als ob wir uns bloß nach einer guten Geldanlage umgesehen hätten. Das war aber nicht unsere Absicht. Wir wollten ein Unternehmen, das für die Stadt größte Bedeutung hat, in Hamburg sichern. Wir haben dafür gesorgt, dass wir nicht mehr als nötig zahlen. Und nun müssen wir alles dafür tun, dass unser Engagement am Ende auch ertragreich ist. Das Unternehmen gehört zu den wenigen, die in der schwierigen Lage der Schifffahrt leidlich zurechtkommen. Das ist etwas Besonderes.

Zur Bundespolitik: Teilen Sie die Auffassung, dass der Start von Peer Steinbrück mehr als holprig war?

Scholz: Dass es nicht so nach Plan gelaufen ist, ist keine Neuigkeit. Das hat Herr Steinbrück selbst gesagt. Aber ich bin ganz optimistisch, dass er der nächste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland sein wird.

Manchmal hat man den Eindruck, dass der Geduldsfaden der SPD schon zerreißt.

Scholz: Nein. Das stimmt nicht.

Würden Sie sich denn einen Rotwein für weniger als fünf Euro auch nicht kaufen, um dieses Fettnäpfchen Ihres Kandidaten noch einmal zu bemühen?

Scholz: Peer Steinbrück ist ein ganz volksnaher Politiker. Viele sagen mir: "Den verstehe ich." Was sie über die jetzige Kanzlerin übrigens nur selten sagen.

Bleibt es dabei, dass Sie nach der Bundestagswahl im kommenden Jahr nicht nach Berlin wechseln?

Scholz: Ich kandidiere wieder als Bürgermeister und stehe bei der nächsten Kabinettsbildung in Berlin nicht zur Verfügung.

Heißt das, dass Sie sich über die Thronfolge von König Olaf noch keine Gedanken machen?

Scholz: Ich habe gar keinen Thron. Ich bin der Bürgermeister einer der erfolgreichsten und ältesten Stadtrepubliken der Welt.

Ärgert Sie dieses geflügelte Wort vom König Olaf? Oder empfinden Sie das ein bisschen auch als Kompliment?

Scholz: Nichts davon. Ich habe den Begriff nicht erfunden, aber ich kann ihn ja nicht aus der Welt schaffen. Also nehme ich ihn hin.

Als Landesvorsitzender der SPD haben Sie gesagt: Wer Führung bestellt, bekommt sie. Bei der Aufstellung der Bundestagskandidaten galt das offensichtlich nicht. Wollten Sie da nicht führen und die Dinge eher laufen lassen?

Scholz: Die Aufstellung von Kandidaten ist eine sehr demokratische Veranstaltung. Das wird in den Wahlkreiskonferenzen entschieden, nicht von oben nach unten. Ich bitte jetzt darum, dass Sie die Fehlzuschreibung, die Sie mit dem lustigen Wort vom König Olaf vornehmen, jetzt nicht selber glauben.

Herr Bürgermeister, haben Sie eigentlich einmal einem Müllmann in der Weihnachtszeit ein Trinkgeld gegeben?

Scholz: ... ich glaube, es ist schon vorgekommen.

Wir fragen das, weil es in einer aktuellen Pressemitteilung der Stadtreinigung heißt, dass die Müllleute das Geld nicht annehmen dürfen. Ist das nicht ein bisschen schräg?

Scholz: Manche Dinge erfährt ein Bürgermeister ja aus den Medien. Ich zum Beispiel jetzt in diesem Interview. Wenn sich die Verantwortlichen in staatlichen Strukturen darum bemühen, dass die Gesetze eingehalten werden, dann kann man sie schlecht dafür kritisieren. (schmunzelt)