Die dunkelrote Linie von Elbgaustraße nach Aumühle. Von Westen nach Osten. 20 Stationen in 50 Minuten. Zeit, um Dosenpfand zu sammeln.

Reisereportagen führen Journalisten meist in ferne Länder. In unserer Serie reicht hingegen ein HVV-Ticket - denn die Reiserouten sind die U- und S-Bahn-Linien der Stadt. Auch dort gibt es viel zu sehen und zu entdecken: kleine Dinge, die wir im Alltag meist nicht beachten; kleine Geschichten aus den Waggons, Haltestellen und Bahnhöfen Hamburgs und seiner Umgebung. Heute: Die S 21

D as Stadion liegt irgendwo am Arsch. Zwischen ihm und dir ist noch der lange Marsch. Und kommst du endlich an, hast du ein großes Loch im Bauch. Der Wurstverkäufer lächelt schon, der weiß das nämlich auch", sangen Norbert & die Feiglinge 1995 im Lied "Trotzdem HSV". Ich pfeife die Melodie auf dem Weg durch den versifften Tunnel zwischen der S-Bahnhaltestelle Stellingen - St. Ellingen - und der Shuttlebus-Kehre. Dort fährt kein Bus zu den Arenen am Volkspark. Dort steht zurzeit keine Wurstbude. Dort warten nicht Tausende Fußball-, Eishockey-, Handball- und Konzertbesucher. Es ist Sommerpause.

Die Müllverbrennungsanlage pustet die Reste einstigen schönen Scheins in die Luft. Im HSV-Museum an der Imtech-Arena (für manche wird sie immer die AOL-Arena bleiben ...) wird das Beste einstigen schönen Scheins abgestaubt. Der Fanblock ist leer. Der im Stadion zumindest, denn der S-Bahn-Kiosk mit dem unsäglich albernen Namen Service Store hat noch einige "Fanblöcke", wie die schwarz-weiß-blauen Achterpacks von Holsten heißen. Durst. Aber so was von. Die limitierten "Fanblöcke" wurden allerdings nur bis Oktober 2011 ausgeliefert und stehen demnach schon länger ungekühlt im Service Store. Also lieber nicht, auch wenn die Lorke sicher besser schmeckt als das Stadionpils: "Mit Bier spülst du den Nachgeschmack herunter und den Durst, das ist genauso teuer, warm und alkoholfrei wie die Wurst."

Start: Elbgaustraße

Mit einer Dose Cola geht es wieder in die ungeschminkte, chronisch unpünktliche alte Dame im Hamburger Verkehrsverbund: die S 21. 36 Kilometer zieht sie sich oberirdisch von Westen nach Osten, passiert 20 Stationen von Elbgaustraße bis Aumühle. Ein langer Lachs. Und wer kein dickes Buch dabeihat, verfällt in den einschläfernden Rhythmus der klappernden und quietschenden Schwellen und Weichen.

Der Blick aus dem Fenster zeigt zwischen Elbgaustraße und Diebsteich nur vorbeihuschende Häuser und verschwommene Graffiti, zwischen Rothenburgsort und Bergedorf meist Industriebrachen und Felder. Da sackt der Kopf schon mal ans Fenster und hinterlässt einen dünnen, nebligen Atemfilm, auf dem man das Haus vom Nikolaus oder ein Tic-Tac-Toe-Spielfeld zeichnen kann.

Wohnzimmer-Voyeurismus am Harvestehuder Weg? Maritimes Flair an den Landungsbrücken? Gibt es in der U 3. Keckernd gackernde Junggesellen auf dem Weg ins Dollhouse? Gibt es in der S 1. Und in der S 21? Sitzplätze. Und eine in den Kurven durch den Gang kullernde Holstendose, die ein auf das Alkoholverbot pfeifender Zecher hinterlassen hat. Ich sammle sie auf. Jeder Dose mit 25 Cent Pfand zählt.

Langenfelde

Denn an der Haltestelle Langenfelde denke ich, berauscht vom Farbenspiel mehr oder weniger talentierter Wandbesprüher, an den Kultstreifen "American Graffiti" von George Lucas aus dem Jahr 1973. "Du fährst einen weißen 56er Thunderbird?", fragt Richard Dreyfuss im Film eine Blondine. Wenige Gehminuten von Langenfelde aus steht genau dieser Thunderbird im Schaufenster des Oldtimer-Händlers Route 66 in der Uwestraße. Aber das Umsteigen von der S-Bahn in das schicke Ford-Cabriolet ist nicht billig. Das Dosenpfand von 30 000 Holsten-Achterpacks müsste ich abgeben. Und so groß ist der Durst nun auch nicht.

Holstenstraße

Nächster Ausstieg: Holstenstraße. Natürlich. Ich könnte mich in die Brauerei schleichen und die fehlenden 239 998 Dosen für den Thunderbird auftreiben. Aber da auch mir schon zu viel Holsten in diesem Text vorkommt, ziehe ich weiter zur Astra Stube unter der Sternbrücke. Das hier müsste die lauteste Ecke der Stadt sein. Der Verkehr brüllt an der Kreuzung Max-Brauer-Allee/Stresemannstraße. Die S 21 und der ICE donnern über Stahl, dass die sich ablösenden Ecken der Konzertplakate zittern. Hier ist das Klub-Bermudadreieck mit Astra Stube, Waagenbau und Fundbureau, in denen nachts Hip-Hop, Reggae, Punk und Electro mit dem Verkehrslärm verschmelzen. Der ehrliche Klang der Großstadt.

Kein Wunder, dass Jan Delay diesen Knotenpunkt zwischen Infrastruktur und Klubkultur auf der CD-Hülle seines Albums "Wir Kinder vom Bahnhof Soul" verewigt hat. "Ja, auf dem Planeten Playmobil lieben sie das Sterile. Und jedes Gefühl gilt es zu desinfizieren" , heißt es auch in "Plastik", einem von Delays älteren Songs. Noch ist nichts in diesem Teil des Schanzenviertels steril, zumindest bis 2014. Dann soll die Sternbrücke saniert werden und der "Bahnhof Soul" muss weichen.

Ebenso ungewiss ist auch die Zukunft des Beach-Clubs "Central Park" an der Max-Brauer-Allee. Neuer Bebauungsplan, Ausschreibung, Papierkrieg. Im Park ist es friedlich, Bob Marley singt den "Redemption Song", und der benachbarte neue Bauwagenplatz Zomia stemmt sich gegen die Gentrifizierung. Als Erinnerung an das im Viertel gefährdete Flair dient ein Bilderstreifen aus einem von zwei Hamburger Schwarz-Weiß-Fotoautomaten (der andere steht an der Feldstraße). Während der Automat fünf Minuten lang rattert und gluckst, um zum Preis von achtmal Dosenpfand den Abzug zu entwickeln, schaue ich ungeduldig auf die Uhr: Schnell raus hier, bevor aus dem Automaten auch noch ein Starbucks oder McDonald's wird.

Dammtor

An der Haltestelle Sternschanze steht schon so ein Burgerbrater, lange umstritten, aber doch genauso stark frequentiert wie die Filiale im Dammtor-Bahnhof. Am Kiosk kaufe ich eine Dose ... äääh... Beck's, mache es mir in Planten un Blomen gemütlich und überschlage noch mal das bisher gesammelte Weißblech-Kapital für den Thunderbird. Irgendwie rechnet sich das nicht. Vielleicht brauche ich doch einen forschungsnahen, volkswirtschaftlichen und interdisziplinären Studiengang an der nahen Universität.

Semesterferien. Ganz toll. Aber gut rechnen kann die Schuldenuhr vor dem Uni-Hauptgebäude. Seit einem Jahr zählt sie die steigenden Verbindlichkeiten der Stadt mit. Und die Zahl, die dort steht, würde hier ausgeschrieben vier Zeilen einnehmen. Da das für viele schwer vorstellbar ist, hier ein Wert zur Verdeutlichung: In jeder Sekunde steigen die Hamburger Schulden um den Wert von 92 Pfanddosen. Wenn ich mich nicht verrechnet habe. "Das Kleingeld, die Münzen, sie fallen wie Regentropfen", könnte der amerikanische Blues-Zausel Seasick Steve jetzt singen. Das Lied heißt "Thunderbird".

Hauptbahnhof

Im Hauptbahnhof tut die S 21 das, was sie am besten kann. Einladen. Ausladen. Familien, Schüler, Bürokräfte, Arbeiter, Handwerker. Stammkundschaft. Für Touristen ist maximal der zentrale Abschnitt zwischen Holstenstraße ("Tarzan"-Musical) und Hauptbahnhof (Rückweg vom "Tarzan"-Musical) interessant. Die Hauptattraktionen Landungsbrücken ("König der Löwen"-Musical), Reeperbahn (Halligalli und TUI-Operettenhaus), Stadtpark, Michel, Speicherstadt und Elbphilharmonie-Baustelle liegen an anderen Strecken. Die S 21 als transhamburgische Eisenbahn kümmert sich um die Dinge des täglichen Bedarfs. Arbeiten. Einkaufen. Blaue Tüten voller Ikea-Regalböden von Billwerder-Moorfleet aus in die Stadt und in die Vororte wuchten.

Von Berliner Tor aus geht es nach Rothenburgsort. Das ehemalige Arbeiterquartier dominieren zumindest an der Trasse Industrie- und Gewerbeanlagen und die obligatorischen Graffiti. Letztere reißen dann eine Station weiter in Tiefstack ab. Beschmiert ist nur noch die S-Bahn, ein Waggon braust komplett in Silber weiter nach Osten. Oder wie ältere Hamburger mit Königsberger Wurzeln sagen: nach dem Osten.

Tiefstack

Tiefstack. Tiefstack. Und noch ein tieferer Tiefstack. Ich steige aus in dieser Wüstenei aus über 30 Abstell- und Rangiergleisen, die vielleicht nicht das Ende, aber vielleicht schon sein Anfang sein könnten. Die meisten Hamburger verirren sich höchstens hierher, um ihr Fahrzeug in der "Zentralen Fahrzeugverwahrstelle für abgeschleppte Fahrzeuge" auszulösen. 1040 Pfanddosen, und der Thunderbird wird aus dem Käfig gelassen. Wenn man einen hat.

Während ich auf dem Bahngleis von Tiefstack die nächste Bahn abwarte und dem Lauf der Zeit, von Sonne und Gestirnen folge, puckern von irgendwoher leise Techno-Töne.

"Denn wenn du denkst, es geht nicht mehr, dann kommt von irgendwo diese Mucke her. Und sagt dir, dass alles besser wird. Und dass die Hoffnung als aller Letztes stirbt."

Gut, Herr Delay, folgen wir den Spuren des Beats. An den Gleisen geht es einen kleinen Weg entlang zu einer Grünfläche, die im Dunklen unter den Rohrleitungen des nahen Heizkraftwerks liegt. Dort haben zwei Dutzend Jugendliche einen Pavillon nebst Generator und Musikanlage für einen privaten Open-Air-Rave aufgebaut. Neben dem Horner Kreisel der vielleicht merkwürdigste Ort für eine Party, aber Techno passt gut zum postapokalyptischen Rohrgeschlinge der Umgebung.

Da das Leergut der Party gut bewacht ist, schlage ich mich auf versteckten "Dienstwegen" ("Betreten auf eigene Gefahr") über den Tiefstackkanal hinweg durch eine Kleingartensiedlung an der Grusonstraße. Ein Schild markiert den "Sammelplatz bei Sturmflut". Gut zu wissen. Sollten irgendwann die Deiche brechen, habe ich 30 Minuten, um vom heimatlichen Barmbek-Süd zum Sammelpunkt zu kommen.

Mittlerer Landweg

Immer weiter nach Osten. In den mittleren Westen der USA. Zumindest sieht es ab Billwerder-Moorfleet so aus. Felder, Äcker, Wiesen. Drei ewige Minuten Fahrt liegen zwischen den Haltestellen. Wiesen, Felder, Äcker. Komantschen-Überfälle. Und im mittleren Westen liegt die Haltestelle Mittlerer Landweg. Wer gut zu Fuß ist, erreicht von hier aus an Allermöhes Häusersiedlungen vorbei den Eichbaumsee. Zwar ist dort auch dieses Jahr das Baden wieder verboten (Blaualgen), aber vom 17. bis 19. August wird in Ufernähe beim traditionsreichen Wutzrock-Festival gefeiert: 30 Bands, kostenlos und draußen.

Bergedorf

Nach der Reise durch die Prärie wird es in Bergedorf wieder urban. Statt zirpenden Grillen lausche ich den Glückwünschen für eine frisch verheiratete Braut, die am Bergedorfer Schloss Freunde und Verwandte herzt. Romantisch ist es hier an dieser Sehenswürdigkeit. Leider ist die Bergedorfer Sternwarte auf dem Gojenberg, vielleicht ein kommendes Unesco-Weltkulturerbe, etwas weit weg für einen spontanen Abstecher. Die Endstation Aumühle, jenseits der Landesgrenze in Schleswig-Holstein, soll noch vor Einbruch des Winters erreicht werden.

Endstation: Aumühle

Auch Reinbek hat ein Schloss sowie einen malerischen Mühlenteich, aber Aumühle hat den Sachsenwald und ebenfalls einen Mühlenteich, sogar mit mehreren Ausflugslokalen und Gasthöfen, die in der Nähe von Friedrichsruh natürlich Fürst Bismarck Mühle oder Waldesruh am See heißen. "Ihre S-Bahn Hamburg sagt Tschüs - bis zum nächsten Mal" , tönt es aus dem Lautsprecher im leeren Waggon. Aber bevor es wieder nach Westen in die Stadt geht, streife ich ein Stück durch das Billetal, locke Zicklein mit frischem Gras und halte nach Eisvögeln Ausschau. Noch ein Bier. Aus dem Glas. Pfeif auf Pfand und Thunderbird. Weiß ist eh nicht meine Farbe. Das Warten auf eine Rückfahrgelegenheit vertreibt Novalis auf dem iPod. Die Hamburger Krautrockband aus den 70er-Jahren kennt heute sicher kein Mensch mehr, aber "Frühsport im Sachsenwald" ist der Song zur S 21: "Zeit, Zeit, Zeit. Nichts. Dann Zeit. Anfang, Ende. Einige Zeit der Ewigkeit."