Mitten in Hamburg: Schlagermove und Triathlon erobern den urbanen Raum. Ideen und Rituale des alten Athen erwachen zu neuem Leben.

Hamburg. Man muss sich das Kraftzentrum einer Stadt, in der zeitgleich zwei öffentliche Großveranstaltungen stattfinden, als magnetische Hochleistungsmaschine vorstellen. Es zieht die Menschen an, beharrlich, und wer diesem Sog am wenigsten Widerstand entgegensetzen kann, der - Stichwort Hochleistungsmaschine - schmeißt sich um zehn Uhr an einem schönen Sonnabendmorgen in die Alster. Um sodann einen halben Kilometer zu schwimmen, 22 Kilometer mit dem Fahrrad zu fahren und fünf Kilometer zu laufen. Oder er sitzt zur selben Zeit in einer Spelunke auf St. Pauli zum Vorglühen, im Kaffeehaus im Portugiesenviertel oder auf der Wiese in Planten un Blomen, bewehrt mit alkoholischen oder nicht alkoholischen Getränken, mit bunten Kostümen und dicken Sonnenbrillen. Die beiden Akteure der Freien und Hansestadt Hamburg am Wochenende: der Ausdauersportler und der Schlagerfan.

Dass der "Hamburger Jedermann" im Triathlon und der Schlagermove am gleichen Tag stattfanden, entbehrte also nicht einer gewissen Ironie. Geschwitzt wird auf beiden Veranstaltungen, die manche Event nennen, obwohl der freizeitbezogene Neusprech wenn überhaupt nur die Musiksause beim Namen nennt. Der Jedermann, der am Sonnabend über die Kurzdistanz den besten Triathleten suchte, ist eine reine Sportveranstaltung. Freilich mit besonderem Setting, nämlich mitten in der Stadt. Das ist fast so spektakulär wie ein Formel-1-Rennen in Monaco - fast.

Der Schlagermove ist als Party natürlich eine gänzlich andere Sache: Hier geht es darum, die Stadt nicht als Etappe des Wettkampfs zu benutzen, sondern als asphaltierte Tanzfläche. Auf einem Dancefloor, der Platz bereitstellt: für 44 rollende Schlagerbühnen und mehr als 300 000 Tanzende, die aus dem einprägsamen und deutschsprachigen Liedgut Rex Gildos oder Marianne Rosenbergs ekstatische Momente schöpfen. Das Amüsiervolk kommt längst nicht nur aus Hamburg, und wer auf St. Pauli lebt, der ist tolerant genug, vollgeparkte und gesperrte Straßen, überdies die laute Musik, die über Stunden auf dem Kiez wummert, für einen weiteren Ausweis der großen Attraktivität des gerne als Kult-Stadtteil apostrophierten Quartiers am Hafen zu halten.

Für Stadtplaner und Stadtdenker, für Imageerfinder und Markenpfleger ist ein Wochenende wie das jetzt hinter uns liegende im Übrigen ein Segen, sie mögen über die vielen Klagen der Anwohner hinwegsehen. Andere Gemeinden haben es schwerer, als lebendige Stadt wahrgenommen zu werden. Was läge näher, als einen "Move" durch den bekanntesten Unterhaltungsort der Republik rollen zu lassen? Gut, so gigantisch wie die Mutter aller gemeinschaftlich verabredeten Musik-Defilees, die Love-Parade in Berlin, ist der Hamburger Schlagermove zwar nicht, er gewährleistet dem Bürger indes das gleiche wie auch der Jedermann-Triathlon: die Eroberung des urbanen Raums. Der wird auf St. Pauli zwar, mag mancher einwenden, nicht in wirklich eindrucksvoller und überraschender Weise zweckentfremdet (geht es da nicht immer ums Trinken und Tanzen?), so schön als Bühne benutzen kann man ihn jedoch sonst nur selten.

"Sehen und gesehen werden" ist das alte Spiel

Die trainierten und ehrgeizigen Sportler beim Jedermann kämpfen zwar bestimmt auch für sich selbst und gegen den inneren Schweinehund; aber was wäre denn eine Leidensmiene (oder das glückshormonbedingte Euphorielächeln im Ziel) ohne denjenigen, der sie sieht? Tausende Helden der Ausdauer kämpften sich durch die Binnenalster und über die Straßen der Innenstadt, angefeuert vom voyeuristisch veranlagten Publikum an der Strecke. Bestimmt wurde auch das Drama des Wettkämpfers gegeben, der doch eigentlich nicht mehr kann, aber im Rennen gegen die Zeit nicht verzagt.

Sehen und gesehen werden, das alte Spiel, es führt selbstredend zu den ollen Griechen. Deren Idee von der Polis und ihren vergesellschaftenden Ritualen soll jetzt als Folie herhalten, dafür ist die Wiege des Abendlands schließlich da. Man vergleicht eben gerne. Namentlich der Schlagermove, und eigentlich sogar: Gerade der Schlagermove mit seinen entrückt tanzenden Darstellern ist nichts anders als ein Nachfahre der antiken Dionysien.

Was denn auch sonst: Die Festspiele zu Ehren des Gottes Dionysos waren ursprünglich Umzüge. Dionysos müsste, seltsam genug, der Lieblingsgott aller Kulturmenschen und Schlagerfreunde sein. Letztere singen denn ja auch entrückt "Griechischer Wein" und geraten darob in Ekstase. Dionysos ist der Gott des Rausches, des Weins, der Verwandlung, ein neuzeitliches Symbol findet er im perückentragenden Schlagerfan auf dem Kiez. Die antiken Umzüge entwickelten sich übrigens erst in Athen zum örtlich gebundenen Fest, es fand mitten im Zentrum statt. 20 000 Menschen kamen, auch aus dem Umland, die Dionysien waren, im damaligen Maßstab, kolossale Veranstaltungen. Sie waren religiös und kultisch motiviert. Und die Vorform des Theaters, das tatsächlich aus den Dionysien entstand. Der Tragödienwettstreit der Dichter wurde, als Athen in seiner Blüte stand, zum Höhepunkt eines jeden Festes.

Die Verse der Schlagerpoeten kommen ohne sechshebige Jamben aus, sie brauchen gar kein Versmaß. Die ganz und gar weltlichen Veranstaltungen Triathlon-Wettbewerb und Schlagermove sind Prozessionen nur für die, denen ihr Hobby zur Religion geworden ist. Um letztmals auf das antike Urbild der Feierei auf städtischer Bühne zurückzukommen: Die antike Fest- war gleichzeitig eine Volksversammlung (keine Frauen!), auf der nicht nur getrunken und getanzt, sondern auch gesprochen wurde.

Vielleicht hat die Parade des schwul-lesbischen Christopher Street Days, die dieses Jahr am 7. August durch Hamburg zieht, noch eine politische Bedeutung. Die kulturelle Praxis, wie sie im Schlagermove zu erkennen ist, dagegen kaum. Hier findet die Spaß- und Freizeitgesellschaft zu sich. Eine, deren Exhibitionismus überschaubar ist. Überschaubarer jedenfalls im Vergleich zum Körperkult der Besucher des Christopher Street Days. Von den sich zyklisch wiederholenden Bräuchen der Fußballfans unterscheidet sich der nur einmal im Jahr stattfindende Umzug, der ja irgendwie auch wie eine hanseatische Form des Karnevals ist, auch: Gefeiert wird in Sachen Fußball ja eher selten in dieser Stadt, da muss der FC St. Pauli schon aufsteigen.

1. - 300.000 ZUSCHAUER JUBELN

2. - TRIATHLON LOCKT AN DIE ALSTER

3. - WELTMEISTERSCHAFT IN HAMBURG

Feiern und joggen, wo sonst die Autos fahren

So bleibt die Besetzung der öffentlichen Räume durch Jedermann-Triathlon und Schlagerparade eine temporäre Nutzung der Stadt mit ihren Wahrzeichen: Rathausmarkt und Fluss, Kiez und Hafen. Mancher mag, indem er sich auf die Bühne Hamburg stellt, sein ganz persönliches Recht auf Stadt einfordern, indem er dort feiert oder joggt, wo sonst Autos fahren.

Der gleichnamigen Bewegung "Recht auf Stadt", die mit vielen Initiativen im vergangenen Jahr gegen die hamburgische Stadtentwicklungspolitik mobil machte, dürfte ob der innerstädtischen Volksfeste allerdings übel werden. Der Schlagermove ist, in der Vorstellung dieser Hamburger, das Sinnbild des durchkommerzialisierten Hamburgs.

Auf ganz großer Bühne, für jeden sichtbar.