Mit dem Meldegesetz liefert der Bundestag den Staatsverdrossenen eine Steilvorlage

Die Bundesrepublik bezeichnet sich selbst als Sozialstaat. In seinem Handeln will er demnach soziale Gerechtigkeit herstellen - in der Arbeitswelt, bei der Bekämpfung von Armut, bei der Erziehung von Kindern, schlicht: bei der Erhaltung menschenwürdiger und gerechter Lebensverhältnisse. Was hat dieser ureigene Auftrag mit dem neuen Meldegesetz zu tun, das Ende Juni quasi in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den Bundestag passieren konnte?

Die Bundesrepublik hat in ihrem Selbstverständnis als fürsorgender Staat die Privatsphäre des Volkes zu achten und zu beschützen. In dieser Aufgabe hat sie zumindest an jenem Donnerstagabend vor zehn Tagen im deutschen Parlament kläglich versagt.

An jenem Abend passierte ein Gesetz den Bundestag, das den staatlichen Handel mit Adressen nicht nur duldet, sondern legitimiert. EinGesetz, das die Grundsätze des demokratischen Gemeinwesens infrage stellt. Die nun entbrannte öffentliche Aufregung lässt sich weniger anhand einzelner Details des neuen Melde-gesetzes ergründen, auch nicht anhand der Frage, welche Regierungspartei die Paragrafen im Bundestag noch unnötig verschärfen musste. Hier geht es der Öffentlichkeit um einen grund-sätzlichen Aufschrei gegenüber einem Gesetzgeber, der die Treue gegenüber seinen Bürgern offenkundig nicht mehr allzu ernst nimmt.

Man wollte bisher glauben, es sei eine Selbstverständlichkeit, dass dem Staat mehr an den Interessen seines Volkes gelegen ist als an den monetären Anliegen der Werbefirmen. Momentan entsteht ein gegenteiliger Eindruck eines Staates, der sich die Verdienstinteressen der Wirtschaft zu eigen macht und die Bringschuld den Bürgern zuweist. Wie es aussieht,wird erst der Bundesrat die not-wendige moralische Korrektur vornehmen und das Gesetz im Herbst stoppen.

Die Enttäuschung über die staatlich beglaubigte Datenweitergabe wiegt aber noch schwerer: Dass dieses Thema im Plenum in aller Eile und auch noch zu einem unglücklichen Zeitpunkt - kurz nach dem Anpfiff des EM-Halbfinalspiels Deutschland gegen Italien - mit nur rund 30 von 620 Abgeordneten behandelt wurde, lässt an dem guten Willen der Volksvertreter gegenüber ihrem Volk zweifeln. Halbfinale oder Datenschutz? Das hat sich offenbar das Gros der Parlamentarier in Anbetracht der Sitzung gefragt und sich in breiter Mehrheit für die Europameisterschaft entschieden. Am Ende verloren die Deutschen im Spiel - und auch im Datenschutz.

Es mag zwar inzwischen zu einer parlamentarischen Gepflogenheit geworden zu sein, sich - wie an jenem Donnerstagabend - nur schriftlich zu äußern und Reden "zu Protokoll zu geben", sie also ohne Debatte einzureichen. Das macht die Angelegenheit mitnichten erträglicher. Diese vermeintliche Gepflogenheit bekommt im Falle des Meldegesetzes einen besonders bitteren Beigeschmack. Gewählte Abgeordnete haben ausgerechnet bei einem derart sensiblen Bereich freiwillig auf ihr Recht verzichtet, im Parlament ihre Meinung zu äußern und im Plenarsaal vor aller Augen Argument gegen Argument zu stellen. Natürlich kann man dem entgegenhalten, dass die eigentliche Arbeit in den Ausschüssen erledigt wird.

Haften bleibt dennoch der verheerende Eindruck eines sichtbaren parlamentarischen Desinteresses. Das Bild des fast leeren Sitzungssaals befördert Demokratieverdrossenheit. Diese ungewollte Verhöhnung des Parlamentarismus könnte in den nächsten Tagen ihren Höhepunkt erreichen - wenn die politische Debatte um den Schutz der Bürgerdaten wieder einmal in eine Talkshow verlegt wird und Regierung und Opposition extra für die Kameras munter ins rhetorische Gefecht gehen. Welch eine verpasste Chance für das Selbstverständnis der Demokratie.