Zehn Monate auf Bewährung für Rentner, der auf dem Hachmannplatz den vierjährigen Joel-Rayan überfahren hatte. Mutter: “Strafe ist zu niedrig.“

Neustadt. Es sind nur Sekunden, die im Mai 2010 das Leben zweier Familien zerstören: Beim Ausparken am Hauptbahnhof rast ein Rentner ungebremst in eine Personengruppe - ein vierjähriger Junge stirbt, seine Mutter wird lebensgefährlich und der Onkel schwer verletzt. Der Unfallfahrer und seine Frau stehen unter Schock und werden bedroht.

Wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung in zwei Fällen verurteilte das Amtsgericht Hamburg den 75 Jahre alten Fahrer gestern zu einer zehnmonatigen Bewährungsstrafe.

"Ich bin verantwortlich für den Tod Ihres Sohnes", hatte der Angeklagte beim Prozessauftakt in einer Erklärung durch seinen Anwalt verlesen lassen. "Es ist mir unerträglich zu wissen, dass es nichts gibt, was ihn wieder lebendig machen kann, obwohl ich bereit wäre, alles Erdenkliche dafür zu tun."

Bei der Urteilsverkündung wandte sich die Richterin an Katarina Schwarz, die Mutter des getöteten Jungen: "Das ist ein furchtbarer, trauriger, schrecklicher Fall, der uns alle hier betroffen gemacht hat." Es gebe keine Strafe, die das Leid irgendwie mindern könne. "Das kann der Strafvollzug auch nicht leisten", erklärte sie. Das Gericht sei überzeugt, dass ein vermeidbarer Fahrfehler des Angeklagten zu dem folgenschweren Unfall geführt habe.

Demnach war der Rentner beim Ausparken in eine Senke gefahren. Als sein Automatikwagen sich nicht durch Lösen der Bremse bewegte, habe er "bewusst Gas gegeben, um das Hindernis zu überwinden", erklärte die Richterin und sagte zu dem Angeklagten: "Und das in einer Situation, in der Sie nicht gut gucken konnten."

Der Wagen sei dann zurückgeschossen. "Innerhalb von wenigen Sekunden haben Sie sich falsch entschieden." Der Rentner hatte das Unfallgeschehen während des Verfahrens durch seinen Anwalt anders darstellen lassen: Er habe einen durchdringenden Schmerz im Bein gespürt, dann sei ihm weiß vor Augen geworden. Danach habe er nur noch einen Knall gehört. Der Version schenkte das Gericht aber keinen Glauben: "Das halte ich für eine Schutzbehauptung", so die Richterin.

Schöner wäre es zudem gewesen, wenn er seinen Führerschein nicht erst auf Vorschlag der Nebenklage zurückgegeben hätte - unabhängig davon, dass er nach dem Unfall nie mehr hinterm Steuer gesessen habe.

Der 75-Jährige nahm das Urteil gefasst auf, sein Anwalt verzichtete noch in der Verhandlung auf eine Revision. Der Vater des getöteten Jungen nannte die Strafe "okay". Er sei froh, dass es nun vorbei sei, sagte er nach der Urteilsverkündung. Seine ehemalige Partnerin, die in dem Verfahren als Nebenklägerin auftrat, zeigte sich hingegen enttäuscht: "Ich hätte eineinhalb Jahre für angemessen gehalten, immerhin hat er ein Kind getötet."

"Derart fahrlässiges Fehlverhalten gibt es im Straßenverkehr durchaus häufig, es hat zum Glück nur selten diese Konsequenzen", sagte Gerichtssprecher Conrad Müller-Horn. Die Folgen des Unfalls waren für beide Familien tragisch. Die Beziehung der Eltern des getöteten Jungen sei zerbrochen, die Mutter habe nach einer Notoperation mehrere Wochen im Krankenhaus gelegen und müsse weiterhin Medikamente nehmen, sagte die Richterin. Auch der Fahrer sei nach dem Unfall nicht mehr er selbst gewesen.

Vor Gericht hatte die Ehefrau des Angeklagten von anonymen Drohanrufen, blutverschmierten Briefen und Flugblättern erzählt. An die Geschäftspartner ihres Sohnes seien E-Mails mit Bildern des toten Jungen verschickt worden. Schließlich ließ sich das Paar gemeinsam in die Psychiatrie einweisen. Der Angeklagte sei weiterhin in ambulanter Behandlung, erklärte sein Verteidiger gestern.

Diese Hetze gegen den Angeklagten kritisierte auch der Staatsanwalt in seinem Plädoyer scharf. "Das waren inakzeptable Diffamierungen gegen die Familie, von denen sich die Nebenklage bis heute leider nicht distanziert hat", erklärte er, forderte aber dennoch eine 15-monatige Bewährungsstrafe für den 75-Jährigen. Der Anwalt der Nebenklägerin hielt zwei Jahre Haft auf Bewährung für angemessen.

Die Mutter hatte sich vor den Plädoyers persönlich an den Angeklagten gewendet und bedauert, dass er sich nach dem Unfall nicht direkt und persönlich bei ihr gemeldet und entschuldigt habe.

Statt Mitgefühl und Reue zu zeigen habe der Angeklagte ein Lügengebilde aufgebaut und sich hinter seiner Frau und seinem Sohn versteckt. "Die Strafe, die Sie meines Erachtens verdient haben, werden Sie hier heute nicht bekommen", sagte die Mutter. Über seinen Verteidiger bot der Angeklagte an, sich in seinem letzten Wort persönlich bei der Familie zu entschuldigen. "Zu spät", lehnte die Mutter ab.