Dietmar Mues und Ehefrau Sibylle gehörten am 12. März zu den vier Toten des Unglücks. Ein Schock, den ihre Söhne bis heute nicht verwunden haben.

Es ist einer der ersten schönen Frühlingstage, dieser Sonnabend, der 12. März. Die milden Temperaturen um 15 Grad locken die Hamburger ins Freie, die ersten Cafés stellen ihre Stühle vor die Tür. Die Welt wirkt heil. An der Ecke Eppendorfer Baum und Lehmweg warten Fußgänger und Radfahrer an der Ampel auf Grün. Es ist 16.45 Uhr, als das Idyll binnen Sekunden zerstört wird.

Ein grauer Fiat Punto rast mit fast 100 km/h auf der Eppendorfer Landstraße trotz des Rotlichts über die Kreuzung, kollidiert erst mit dem Golf Cabrio, in dem der Schauspieler Peter Striebeck und seine Frau sitzen, und wird dann auf den belebten Gehweg geschleudert.

Dort, wo eben noch eine Menschengruppe wartet, bleibt der Fiat zerbeult auf der Seite liegen. Schreie sind zu hören. Fußgänger liegen leblos auf dem Boden. Vier Menschen sterben, unter ihnen der Sozialwissenschaftler Günter Amendt, 71, die Künstlerin Angela Kurrer, 65, sowie der Schauspieler Dietmar Mues, 65, und seine Ehefrau Sibylle, 60. Acht Menschen werden verletzt, unter ihnen auch der Schauspieler Peter Striebeck, 73, und seine Frau, 68.

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Im Blut des Unfallfahrers Alexander S. werden nicht nur Spuren eines Medikaments gegen Epilepsie gefunden, sondern auch der Cannabis-Wirkstoff THC. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässiger Tötung. In wenigen Tagen soll Alexander S. angeklagt werden. Es war bereits der vierte schwere Unfall des Epileptikers. Das Abendblatt sprach mit den Söhnen von Dietmar und Sibylle Mues über den Moment, als sie die schockierende Nachricht erhielten - und darüber, wie es ihnen seitdem ergangen ist.

Ein Nachmittag im November. Da sind sie, alle drei. Ganz selbstverständlich stellen sie drei Stühle in eine Reihe. Alle drei auf einer Seite des Tisches. Die Brüder Wanja, Woody und Jona Mues wollen gemeinsam über den Tod ihrer Eltern sprechen und darüber, wie sehr ihnen der Beistand von Freunden, Bekannten und Fremden in der schwersten Zeit ihres Lebens geholfen hat.

"Wir möchten dieses Interview nutzen, um den Leuten für die Anteilnahme und Hilfe zu danken", sagt der Älteste von ihnen, Schauspieler Wanja Mues, 37 ("Stubbe - Von Fall zu Fall"). "Und ihnen auch mitteilen, dass wir das Schicksal überleben werden, wir zusammenhalten und es uns - so lapidar das klingt - den Umständen entsprechend gut geht."

Dietmar und Sibylle Mues waren am Nachmittag des 12. März mit ihrem Tandem auf dem Weg von Freunden nach Hause. Am Abend wollte das Paar ins Polittbüro am Steindamm, wo Herrchens Frauchen politisches Kabarett aufführte. Der Schauspieler und die Lehrerin waren dort Stammgäste.

Eine Stunde vor dem Unfall hatte Jona, 30, seine Mutter noch angerufen. Nichts Besonderes. Die Kinder telefonierten fast täglich mit ihren Eltern. Die Mutter war die Schaltzentrale der Familie. Sie hielt alle über das Leben der anderen auf dem Laufenden, erinnerte an Geburtstage von Bekannten, schlug Treffen der Brüder vor, wenn sie wusste, dass diese gerade in derselben Gegend waren. "Jetzt telefonieren wir drei viel häufiger als früher", sagt Jona. Die Brüder geben sich gegenseitig Halt und versuchen die Lücke, die bei jedem entstanden ist, so gut es geht zu füllen. Oder wie sie es auf der Beerdigung im April gesagt haben: "Wir drei sind da. Wir sind Mama und Papa."

Die schockierende Nachricht, dass ihre Eltern tot sind, hatten sie getrennt voneinander erhalten. Jona arbeitet am Stadttheater in Koblenz und hatte an dem Sonnabend eine Aufführung. Wanja lebt mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern in Berlin. Woody, 20, der in Hamburg wohnt, war gerade im Skiurlaub. Nachdem die Polizei ihn als Angehörigen nicht antraf, fuhren die Beamten zur Wohnung von Sibylle Mues' Zwillingsschwester.

Allerdings war nur ihr Mann zu Hause. Er verständigte seinen Sohn, der ebenso wie Wanja Mues in Berlin wohnt und sofort zu seinem Cousin fuhr. "Er stand um 5 Uhr morgens vor unserer Tür, versuchte stabil zu sein und ist beim Reden in sich zusammengesackt", erinnert sich Wanja an den Besuch seines Cousins. "Ich bin hinaus in den Garten gelaufen, habe immer nur gesagt 'Was macht ihr denn? Was macht ihr denn?' - und ich war sehr aufgewühlt." Mit dem ersten Zug am Sonntag fuhr Wanja nach Hamburg und versuchte ständig, seine Brüder zu erreichen.

Gegen 10 Uhr sprach er mit Jona in Koblenz. "Ich habe total angefangen zu zittern", sagt Jona heute. Er rief erst seine Freundin an, dann das Stadttheater. Der Arbeitgeber stellte ihn ohne Umschweife frei. Jona musste nach Hamburg - sofort.

"Ich habe mich eine halbe Stunde unter die warme Dusche gestellt, meine Sachen zusammengepackt und bin zum Bahnhof. Ich dachte, okay, jetzt wache ich gleich auf. Das ist alles nur ein Traum. Kurz vor der Ankunft fuhr mein Zug - das ist immer das Schönste - zwischen Binnenalster und Außenalster entlang. Und das war für mich der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich nicht mehr aufwache. Dass jetzt alles wahr ist, was gewesen ist. Dann bin ich mit der U-Bahn zum Klosterstern gefahren und von dort zum Eppendorfer Baum gegangen. Ich wusste ja, dass es da in der Nähe passiert ist und ich immer näher auf den Unfallort zugehe. Wanja und unser Cousin kamen mir schon entgegen. Wir haben uns erst einmal umarmt, geweint und sind dann nach Hause gegangen." Zu Hause, in der Wohnung der Eltern, waren beide noch sehr präsent. In den Zimmern roch es nach der Mutter, ein am Vortag abgelegtes Buch erinnerte an den Vater.

Als der jüngste der drei Brüder, Woody, am Sonntagmorgen im Skiurlaub auf sein Handy guckte, zeigte es 20 verpasste Anrufe von Wanja an. "Da habe ich schon angefangen, mich mulmig zu fühlen", sagt er. Er rief seinen Bruder zurück. Dieser wollte, dass er erst eine Kleinigkeit aß und sich dann noch einmal meldete. Die Nachricht erfasste Woody nicht sofort. "Mein Hirn hat irgendwelche Windungen gemacht, um diese Nachricht nicht zu verstehen. Ich wollte das einfach nicht verstehen. Aber dann hat Wanja offen ausgesprochen, was passiert ist. Mir wurde kalt, ich habe gezittert und bekam plötzlich so etwas wie einen Tinnitus: ein Schlag, und alles wurde dumpf. Ich saß auf dem Bett, meine Freundin war hinter mir, dann hab ich gesagt 'Mama und Papa sind tot', und bin total ins Heulen ausgebrochen." Der Vater seiner Freundin, mit deren Familie er in Österreich war, organisierte einen Flug ab München. Am Abend war Woody in Hamburg.

In den folgenden Wochen mussten sich die drei mit Dingen auseinandersetzen, mit denen sie eigentlich erst viele Jahre später gerechnet hatten. "Wir haben nie darüber geredet, was ist, wenn so was passiert", sagt Jona. Die Eltern seien schließlich noch recht jung gewesen, und meist spreche man über solche Themen erst in einem höheren Alter. "Und man hat natürlich immer das Gefühl gehabt, dass, wenn einer vorher geht, der andere Elternteil noch da ist und mitbestimmen würde", sagt Wanja. "Das war ja unvorstellbar, von jetzt auf gleich beide Eltern zu verlieren. Das ist es eigentlich immer noch." Die Brüder organisierten eine Beerdigung, von der sie glaubten, dass sie im Sinne ihrer Eltern gewesen wäre. "Wir konnten uns nicht vorstellen, unsere Mutter als jemanden, der klaustrophobisch veranlagt war, in einen Sarg zu sperren, oder auf hoher See zu bestatten, da sie auch leicht seekrank wurde. Wir entschieden, dass die Asche der beiden zwar in eine gemeinsame Urne sollte, aber ohne sie zu vermischen. Denn sie waren zwar sehr eng miteinander verbunden, aber unser Vater war immer jemand, der gesagt hat, er braucht auch seinen eigenen Raum."

Die emotionale und praktische Hilfe von Freunden, Nachbarn und Bekannten sowie die Anteilnahme vieler bis dahin Fremder haben die Geschwister tief beeindruckt. "Das war auch ein Trost, zu wissen, wie vielen Leuten das nahegeht", sagt Woody. "Und dass alle da waren, sich bereit erklärt haben, für einen da zu sein - und es dann auch wirklich waren. Das hat mir unglaublich geholfen." Jeden Tag haben Nachbarn ihnen Essen vorbeigebracht. Ganze Drei-Gänge-Menüs für mehr als ein Dutzend Leute. Andere fragten, ob sie mit Geld aushelfen können, oder haben ihre Hilfe bei der Wohnungsauflösung angeboten. Besonders Woody hat es sehr geholfen: "Ich hatte große Angst davor, die Teile der Wohnung, die man nicht mitnehmen konnte, die weder einen materiellen noch hohen emotionalen Wert hatten, aber die man natürlich trotzdem gewohnt war, im Müllcontainer zu versenken. Da haben dann Freunde Fuhre um Fuhre zum Sperrmüll gebracht, haben Bücher aussortiert und so weiter. Das war sehr wichtig. Ich hätte das alleine nicht geschafft. Ich wäre verrückt geworden."

Acht Monate sind inzwischen vergangen. Während des Gesprächs steigen Wanja immer wieder Tränen in die Augen. Er kämpft. "Man kann unsere Gefühlslage am besten mit dieser wirklich blöde klingenden Formulierung "den Umständen entsprechend gut" zusammenfassen", sagt er. "Die Umstände sind beschissen. Es ist schlimm. Es ist schwer vorstellbar. Immer noch. Es kommt in Wellenbewegungen, wenn die Erinnerung wach wird, kommt einfach die Trauer. Aber der Alltag geht weiter. Ich muss jetzt für meine Kinder da sein, muss arbeiten, Papierkram erledigen und hab mir bis jetzt leider viel zu wenig Zeit genommen, mich wirklich mit der Trauer zu beschäftigen."

Auch ein Prozess, der die Schuldfrage des Unfallfahrers Alexander S. klärt, sei wichtig. "Das würde mir helfen, in der Trauer weiterzukommen und irgendwann hoffentlich mal einen Punkt zu finden, an dem die Sache abgeschlossen ist. Egal, wie der Schuldspruch ausfällt. Das wird uns auch alles nicht die Eltern zurückbringen. Wichtig ist, dass irgendeine Form von Gerechtigkeit kommt. Und die kann es meiner Meinung nach nur geben, wenn es zu einem Prozess kommt, bei dem alle Ungereimtheiten mal geklärt werden."

Lange haben die Brüder auf ein Zeichen seitens des Unfallverursachers gewartet. "Er kann ja einen unverfänglichen Brief verfassen, der ihn nicht angreifbar macht und nur sagt, dass er traurig findet, was passiert ist. Das macht es nicht wieder wett. Aber man hätte etwas mehr innere Ruhe, wenn man wüsste, der andere sieht, dass es schlimm ist." Jetzt sei es dafür zu spät.

Im Sommer wurde eines von Wanja Mues Kindern eingeschult. Oma und Opa, die mit ihren Enkeln so gerne gebastelt, gespielt und Quatsch gemacht haben, waren nicht dabei. Sie fehlen. "Ich glaub, es ist machbar, irgendwann einen Umgang damit zu finden", sagt Wanja. "Gleichzeitig ist es für mich manchmal so traurig, wenn ich darüber nachdenke, dass unsere Eltern meine Kinder kennengelernt haben, sie waren auch bei meiner Hochzeit. Sie werden aber bei Jonas und Woodys Hochzeit nicht dabei sein. Deren Kinder werden sie nicht kennenlernen. Ich möchte meinen Kindern die Erinnerung an sie wachhalten und ihnen eine Stütze sein. Ihnen vermitteln, dass der Tod zum Leben dazugehört. Aber natürlich fragt man sich: Warum wir? Warum so? Warum so plötzlich? Warum konnte man sich nicht richtig verabschieden?"

Abschied nehmen konnten die drei Kinder in den Räumen eines Bestattungsunternehmens. Die Eltern wurden aufgebahrt. Eine Maskenbildnerin hatte dafür gesorgt, dass die Söhne sie nicht von einem Unfall gezeichnet, sondern so, wie sie sie kannten, in Erinnerung behalten können.

"Die beiden lagen nebeneinander, und man dachte, die schlafen nur", sagt Jona. "Vor allem Mama", fügt Wanja hinzu. "Die hat so gelegen, wie sie auch nachmittags ihren Mittagsschlaf gehalten hat. Ich dachte, nicht zu laut reden, sonst wacht sie auf." Jona ging es ähnlich: "So hatte man das Gefühl, man fasst jetzt ihre Hand an, und sie schreckt hoch." Wenn der 30-Jährige traurig wird, versucht er sich an schöne Dinge mit seinen Eltern zu erinnern. Fußballspiele im Park, gemeinsame Skatrunden und Gute-Nacht-Geschichten. Manchmal hat er sogar noch mal ein paar kostbare Minuten mit ihnen. "Wenn ich von ihnen träume, weiß ich sofort, das ist jetzt ein Traum, weil beide tot sind. Und dann versuche ich, die Zeit, die ich im Traum mit ihnen habe, zu genießen. Weil ich weiß, ich werde sie nie wieder sehen, und im Traum erlebe ich sie so, wie sie waren." Wanja nickt: "Ja, das ist schön."

Woody fand in den ersten Wochen Trost in seiner vertrauten Umgebung Eppendorf: "Am Anfang war ich in einer Traumwelt. Da bin ich durch die Straßen, die ich kenne, gegangen, da waren Mama und Papa mir so nah. Die Erinnerungen waren so präsent, dass sie eigentlich noch da waren für mich. Jetzt wird mir immer klarer, dass sie bei bestimmten Sachen eben nie da sein werden. Jetzt kommt das erste Weihnachten ohne sie. Ja, das begreift man langsam." Woody, der in Hamburg Philosophie studiert, wohnte in den vergangenen Monaten bei seinem Bruder in Berlin und absolvierte dort ein Praktikum.

Er brauchte einen geregelten Tagesablauf, Ablenkung und ein bisschen auch eine andere Umgebung. "Trotzdem ist Hamburg für mich und meine Identität ein ganz wichtiger Ort, an dem ich mein Nest habe, meine Wohnung, meine Freundin und Straßen, die ich jeden Tag gesehen habe und in denen ich mich zu Hause fühle. Ich möchte die Erinnerungen behalten und mich weiter damit auseinandersetzen."

Die Brüder wollen die Werte ihrer Eltern - Wärme, bedingungslose Liebe, Akzeptanz, Verständnis, Unterstützung - erhalten. Der Zusammenhalt war ihnen immer wichtig und ist es jetzt noch mehr. "Es hat sich wenig im Umgang verändert, sondern eher im Denken", sagt Wanja. "Gerade ich als Ältester habe schon das Gefühl, dass ich eine Verantwortung übernommen habe, jetzt, wo unsere Eltern nicht mehr da sind."

Woody glaubt: "Wanja vereint in sich sehr viel von Mama. Das Organisationstalent und eine große Sorge und Fürsorge. Jona hat sehr viel von Papa, was die Ruhe angeht und das mal Für-sich-sein-Müssen. Und dann aber der Beobachter sein, der nur einen Satz dazu sagt, in dem aber so viel drinsteckt."

"Und du hast von beiden was", sagt Jona zu Woody. "Ich vereine von beiden das Schlechteste", antwortet Woody und guckt seine Brüder herausfordernd an. Sie lachen. Jona lehnt seinen Kopf an die Schulter seines jüngeren Bruders. "Ich habe von beidem was", sagt Woody. "Wir haben alle von beiden was." Die drei sind da. Die drei sind Mama und Papa.