Frühere ARD-Korrespondent Jürgen Bertram hat ein Buch über seine Nachbarn geschrieben. Gegenentwurf zu Sarrazins Thesen.

Eimsbüttel. Wenn man längere Zeit weg war und wiederkommt, sieht man seine Umgebung häufig mit ganz anderen Augen. Als Jürgen und Helga Bertram nach 13 Jahren in Asien wieder in ihre Wohnung an der Gustav-Falke-Straße in Eimsbüttel gezogen waren, hatten sie diese besondere Sichtweise. "Es gab praktisch keine deutschen Läden mehr, keine dieser typischen Tante-Emma-Läden", sagt Jürgen Bertram. Stattdessen haben Griechen, Pakistani, Türken, Vietnamesen die Geschäfte an der Straße mit den roten Backsteinhäusern übernommen. Das war eine angenehme Überraschung für das Ehepaar. Nicht weil sie keine Tante-Emma-Läden mögen, sondern weil sie diese Vielfalt so beeindruckt hat. Über die unterschiedlichen Zuwanderer in seiner Straße hat Jürgen Bertram ein Buch geschrieben. In "Onkel Ali & Co. Meine Multikulti-Straße" erzählen seine Nachbarn ihre Lebensgeschichten.

Eine U-Bahn-Station ist nicht gerade ein Wohlfühlort. Wer am Schlump ein- und aussteigt, hat es ein bisschen besser, weil es dort eine Ladenzeile gibt, die sehr einladend ist - mit einem Zeitungsgeschäft, einem Schnellimbiss, einem Bäcker. Und auch das türkische Ehepaar Öylü hat dort an der Gustav-Falke-Straße, gegenüber der Wohnung von Jürgen Bertram und seiner Frau, ihren Obst- und Gemüsestand. Wer von den Passanten, die hier täglich vorbeihasten, weiß schon, dass der Vater von Fetiye Öylü in den 60er-Jahren als Hirte aus Südanatolien nach Deutschland kam. Während ihr Vater versuchte, sich in Deutschland eine Existenz aufzubauen, starben zu Hause in Ostanatolien zwei seiner drei Kinder an einer Lungenentzündung und am plötzlichen Herztod. Fetiye war das dritte Kind.

Auch sie war damals dem Tod nah: verschleppte Kinderlähmung. Ihr Vater holte sie und die Mutter nach Deutschland. Fetiye wurde am UKE behandelt und wieder gesund. Sie machte Abitur an der Klosterschule und studierte Erziehungswissenschaften. Ihr Sohn Beritan geht auf das katholische Sankt-Ansgar-Gymnasium. Mit Fetiye Öylü hat Jürgen Bertram während seiner sechsmonatigen Recherche für das Buch bei Tee und Gebäck hier am Obststand über die Familiengeschichte geplaudert.

Der ehemalige Auslandskorrespondent hat für das NDR Fernsehen bis 1995 aus China und Südostasien berichtet, war in Australien und Skandinavien unterwegs. Aber was genau vor seiner Haustür für Menschen lebten, war ihm nicht so klar. Als Thilo Sarrazin umstrittene Thesen über Migranten aufstellte, habe ihn das sehr aufgeregt. Das sei ein Grund gewesen, warum er gemeinsam mit Ehefrau Helga dieses Buch schrieb. "Ich bin Realist, natürlich gibt es solche Extreme, wie sie Sarrazin beschreibt. Ich weiß, wie es in Neuwiedenthal oder in Berlin-Neukölln aussieht. Aber das normale Leben ist hier in Stadtteilen wie Eimsbüttel", sagt der 71-Jährige. Seine Idee: es besser zu machen als Sarrazin und sich im Viertel umzugucken. "Mensch, dachte ich mir, guck dir mal diese Leute an. Die Geschichten liegen doch auf der Straße."

Leute wie die Obsthändlerin Fetiye eben. Dass eine türkische Familie ihren Sohn unbedingt in die Obhut der katholischen Kirche gibt, überraschte Jürgen Bertram. Die Erklärung: "Weil dort, im Gegensatz zu vielen anderen Schulen, konsequent Werte vermittelt werden - Werte wie Hilfsbereitschaft", sagte ihm Fetiye Ölyü. Ihr Mann Önder sagt in dem Buch: "Die Deutschen können stolz sein auf ihren Staat, der zu den besten der Welt gehört. Aber stattdessen beklagen sie sich darüber, dass sie zu viel Steuern bezahlen müssen." Und wenn er sagt: "Alles ist gepflastert, geordnet, geregelt", dann klinge das vielleicht wie Ironie, sei aber voller Hochachtung, hat Bertram bemerkt. Er sei bei den Menschen überall auf Bereitschaft gestoßen, dem Gastland etwas zurückzugeben. Am Anfang, sagt der Autor, hätten die Menschen Scheu gehabt, ihm ihr Leben zu schildern. "Das Stichwort Sarrazin hat sie aber elektrisiert, gerade diejenigen mit einem islamischen Hintergrund", sagt Jürgen Bertram. Viele hätten Sarrazins These als Beleidigung empfunden.

+++ Auch ein Jahr nach seinem Buch bleibt Sarrazin bei seinen Thesen +++

Von ihrem Wohnzimmerfenster aus können Jürgen und Helga Bertram auf den Wochenmarkt Schlump schauen. Dort baut der vietnamesische Fischhändler Nguyen Ngoc Chau, 53, montags seinen Stand auf. "Wenn der seinen Mund wie zu einem gewöhnlichen Pfiff spitzt, presst er einen Laut aus seinen Lippen, der sich wie die durch Mark und Bein gehende Melodie des Krieges anhört: zunächst das Aufheulen der Sirenen, dann das anschwellende Dröhnen der amerikanischen Bomber, am Ende - wumm - die Explosion", schreibt Bertram in dem Buch. "Ja, so war das damals fast jeden Tag bei uns in Hanoi", sagte ihm der Fischhändler.

Der Vietnamese erlebte den Vietnam-Krieg als Grundschüler. Die meiste Zeit verbrachte er im Luftschutzkeller. Hunger und Bombenhagel bestimmen seine Kindheit. Und nun steht dieser Mann in Eimsbüttel und verkauft hausgemachte Fischfrikadellen und Bücklinge. Heimweh kenne er nicht. "Ich gewöhne mich schnell an jede neue Situation, nehme die Dinge, wie sie kommen." Jürgen Bertram sitzt an diesem sonnigen Herbstnachmittag in seinem Wohnzimmer bei einer Kanne Kräutertee und erzählt von seinen Recherchen. Die Gespräche haben ihn sichtlich beeindruckt: "Man muss die Energie und Ausdauer dieser Menschen bewundern." Viele der Biografien seien filmreif. Sein Fazit: "Das Prinzip Multikulti, das so mancher Politiker bereits für gescheitert hält, gehört zur alltäglichen Praxis in meiner ganz normalen Straße." Menschen, mit denen ihn bisher ein "Hallo, wie geht's?"-Verhältnis verbunden habe, habe er bei seinen Recherchen endlich kennengelernt. Vor ein paar Tagen haben die Bertrams die rund 20 Menschen, die in dem Buch vorkommen, zu sich nach Hause zum Abendbrot in die große Altbauwohnung eingeladen. Fast alle kamen. "Das Nachbarschaftsempfinden und das interkulturelle Verständnis wurden auf jeden Fall gestärkt", sagt Bertram. Der letzte Gast ging erst gegen Mitternacht.

Jürgen Bertram: "Onkel Ali & Co. Meine Multikulti-Straße", 231 Seiten, 16,95 Euro