Horster Damm: Das Leben auf dem Dorf ist geprägt von großer Gemeinschaft. Doch die alten Strukturen machen es neu Zugezogenen nicht immer leicht.

Altengamme. "Lott is doot, Jule liggt in'n Groben", schmettern sie aus voller Kehle und vierstimmig. Das ist Ehrensache. Mittwoch, kurz vor sieben am Abend. Die Liedertafel Loreley Altengamme-Horst probt. Der Termin ist heilig - mit ordentlich kühlem Pils und ohne Frauen. Geschäftssprache ist Platt. "Alle hier singen seit mehr als 40 Jahren zusammen", sagt Walter Wiegels, 76. Und nicht nur das. Sie sind auch Nachbarn. Wenn man zusammenzählt, wie lange die älteren Herren, die an diesem Abend ins Fährhaus Altengamme gekommen sind, schon dicht an dicht leben, kommt man auf 482 Jahre. Da passt es irgendwie, dass sie auch noch den "Jung mit'm Tüdelband" anstimmen.

Das haben sie schon in der Schule gesungen. Sie haben auch zusammen Äpfel geklaut und heiße Sommernachmittage im Schwimmbad vorbeiziehen lassen. Sie sind zu Tanzfesten geradelt und haben sich schon mal die Mädels ausgespannt. "Hier kennt jeder jeden, weiß, wer mit wem verheiratet ist", sagt Klaus Puttfarcken, 1. Vorsitzender der Liedertafel und der Einzige, der nicht aus Altengamme kommt, sondern aus dem 15 Kilometer entfernten Kirchwerder. In ihren Schrankwänden stehen Alben mit den gleichen Fotos, und irgendwann werden sie auf dem Friedhof um St. Nicolai vereint sein. Es ist auch eine Nachbarschaft, die unausweichlich ist.

"Es ist gut, wie es ist", sagt Günter Osterwinter, 69, und guckt in die Runde. Zustimmendes Nicken bei den Sangesbrüdern im Fährhaus. Ihre Straße ist der Horster Damm. "Aber glauben Sie man nicht, dass wir immer zusammenglucken", sagt der gelernte Schiffbauer mit ernster Miene. "So ist das hier nicht." Nicht in den Vierlanden und auch nicht in Altengamme, dem Dorf, das als östlichster Stadtteil der Hansestadt damit wirbt, dass dort die Sonne zuerst aufgeht. Das liegt wohl auch daran, dass die 2100 Altengammer sich auf 15,6 Quadratkilometer verteilen. In schmucken Häusern, die sich wie eine Perlenkette an die Deiche schmiegen. "Man trifft sich bei uns nicht zufällig", sagt Hermann Struß, 76. "Deshalb sind die Vereine so wichtig." Und der innere Zusammenhalt. Hamburg ist ganz weit weg. Die Stadt, das ist Bergedorf.

"Man hat den Eindruck, dass die Altengammer wirklich füreinander einstehen", sagt einer aus dem Nachbardorf. Schon, aber das sei doch selbstverständlich, brummeln die Männer im Fährhaus. Da muss man eigentlich keine großen Worte drum machen. Wenn jemand gesundheitliche Probleme hat, zum Beispiel. So wie bei Heino Sandrock, 73, und Frau.

Anfang des Jahres habe er einen Unfall bei Glatteis gehabt, mit einer schweren Kopfverletzung. "Und meine Frau hatte einen Schlaganfall. Da haben die Nachbarn sie ins Krankenhaus gefahren und für uns eingekauft. Das ist viel wert, dass man sich darauf verlassen kann", erzählt Rentner Sandrock und seine Stimme klingt belegt. Blumen gießen, Schlüssel verwalten, das gibt es in Großstadtquartieren auch. Aber wenn sich alle duzen, wenn vielleicht schon die Eltern zusammen in der Sandkiste gespielt haben und die Kinder und Enkel auch, verbindet das. "Man nimmt Anteil am persönlichen Schicksal", sagt Ilse Struß, 72, Vorsitzende des Loreley-Frauen-Singkreises und an diesem Abend ausnahmsweise in der Männerrunde dabei. "In schlechten wie in guten Zeiten."

Gerade auch, wenn es etwas zu feiern gibt. Beim Schützenfest zum Beispiel, das gerade erst drei Tage die Vierländer auf die Beine brachte. Oder bei größeren Familienfesten. "Traditionell macht man einen Empfang, zu dem alle eingeladen sind", erzählt Ilse Struß. Als sie und ihr Mann im Juli goldene Hochzeit hatten, kamen mehr als 100 Leute - auch die Nachbarn. Geselligkeit ist wichtig. "Weißt du noch, wie es war, als wir mal eine Polonäse auf dem Horster Damm und dann durchs Dorf gemacht haben?", ruft Bernd Stamer, 67, dazwischen. Und der pensionierte Ingenieur Struß, als Vorsitzender des Kultur- und Heimatvereins quasi die lokalpatriotische Seele Altengammes, hat dazu auf dem Akkordeon gespielt.

Das klingt schon sehr nach Dorf-Idylle. Und wie ist es mit Streitereien, Nachbarschaftsärger und sonstigen Differenzen? Schweigen. Klar, Zoff gibt es schon mal. "Einmal ist einer wegen eines Spruchs weggeblieben und nie wieder zum Singen gekommen", erinnert sich Sängerchef Puttfarcken. Viel schwerer wiegt allerdings etwas anderes: Der Liedertafel Loreley fehlt der Nachwuchs. Mit 66 Jahren ist Hans-Heinrich Dibbern der Benjamin in der Runde. Von dem einst so stolzen Männerchor sind im 104. Jahr seines Bestehens nur noch zehn Sänger übrig. Der einzige Ausweg aus der Krise war der Zusammenschluss mit dem Männergesangverein Polyhymnia aus Schwinde, von der Elbseite gegenüber. "Die hier neu bauen, kennen wir nicht, und die wollen auch nicht mitmachen in unseren Vereinen", sagt Walter Wiegels leicht säuerlich. Sogar mit einer Postwurfsendung hätten sie versucht, neue Männer zu werben. "Es hat sich aber keiner gemeldet."

Das offenbart ein Problem, das nicht nur die Altengammer haben. Jetzt, wo gerade Familien den äußersten Hamburger Osten entdecken und dort bauen, entwickelt sich eine Art Parallelwelt zu den alten Dorfstrukturen. "Im ersten Winter bin ich fast depressiv geworden, und auch nach neun Jahren nehmen die mich nicht wirklich ernst", klagt etwa eine Mutter aus dem Nachbardorf Curslack. So bleiben Einheimische und Zugereiste oft unter sich.

"Hier bei uns in Vierlanden sprechen wir drei Sprachen: Hochdeutsch, Plattdeutsch und über andere Leute", sagt Günter Osterwinter. Alle lachen, fast ein bisschen ertappt. "Ach, Günter", sagt Heiner Schneider, 73, "du hast schon immer so viel gesabbelt." Die Stimmen sind auf jeden Fall gut geölt an diesem Abend. Geredet ist jetzt genug. Die Herren stimmen an, Brahms "Ungarischen Tanz" und - wie passend - auch noch ein Volkslied: "Kein schöner Land in dieser Zeit". Auf Hochdeutsch.