Mehr als nur Marketing: Von Residenzkünstlern profitieren Künstler und Publikum gleichermaßen. Doch was steckt hinter dem Begriff?

Hamburg. Ein "Artist in residence" gehört heute fast überall zum Programm, wenn Kunst und Kultur entstehen. In der Musik (bei der Elbphilharmonie oder den Symphonikern), in der Literatur (beim Inselschreiber auf Sylt oder im Austauschprogramm des Hamburger Literaturhauses mit Prager Schriftstellern), in der bildenden Kunst, bei Choreografen (im K3-Zentrum auf Kampnagel) und neuerdings auch im Theater (auf der Fleetstreet-Bühne). Artists in residence, was heißt das - für die Künstler und die Strukturen ihres Umfelds?

Ursprünglich bedeutet In-residence-Sein, sich außerhalb seines normalen Wirkungskreises für eine bestimmte Zeit niederzulassen, um Erfahrungen zu sammeln und weiterzugeben. Ein Modell, das zuerst in den USA um 1900 etabliert wurde und tatsächlich Unterkünfte für Künstler meinte, vor allem in der bildenden Kunst. Auch ein Künstlerdorf wie Worpswede zog vor mehr als 100 Jahren Kollegen aus anderen Ländern an, die auf der Suche nach Wohnraum, einem Atelier und Inspiration waren.

Heute steckt hinter dem Begriff Artist in residence, vor allem in der klassischen Musik, eine Mischung aus Marketing und Programm-Anspruch. "Was unter diesem Namen passiert, ist sehr unterschiedlich", sagt die Bratschistin Tabea Zimmermann, die 2010/ 2011 Residenzkünstlerin der Elbphilharmoniekonzerte war. "Was dabei herauskommt, ist stark abhängig davon, wen man als Gesprächspartner hat."

In Hamburg war das Christoph Lieben-Seutter, Generalintendant der Elbphilharmonie. Er sagt: "Es schafft Vertrauen, wenn sich jemand mehrfach in einer Saison bei uns vorstellt, in Orchesterkonzerten, Kammermusik-Abenden oder experimentellen Programmen. So entsteht eine besondere Bindung zwischen Publikum, Haus und Künstler. Wenn die Konzertgäste den Künstler in vielen Facetten kennenlernen, besuchen sie auch mal ein Konzert, dessen Programm ihnen sonst auf den ersten Blick nicht so zugesagt hätte."

Für die Hamburger Symphoniker hat Intendant Daniel Kühnel den "Artist in residence" entdeckt. Der Klarinettist Martin Fröst war in der Saison 2008/2009 der erste Mehrfachgast. "Die Idee entstand bei einem Gespräch, in dem ich erfahren habe, welche Vielfalt an Ideen in ihm steckt." Kühnel geht es darum, Ungewöhnliches in ungewöhnlichen Zusammenhängen zu präsentieren. Die Symphoniker hatten mit dem Pianisten Francesco Tristano einen Künstler "in residence", der befreundete Techno-Musiker einlud - plötzlich saßen 1600 Zuhörer in der Laeiszhalle, 800 von ihnen Techno-Fans. "Da hab ich mir vor der Ansage erst mal die Krawatte abgebunden", sagt Daniel Kühnel.

Ein Konzert von Tristano mit seinem Piano-Kollegen Rami Khalifé lockte 300 Menschen an, obwohl kein Programm angegeben wurde - die Musiker improvisierten. Erfolge, auf denen der Geiger Guy Braunstein als Residenznachfolger aufbauen kann. Tabea Zimmermann setzte eine "Nacht der Bratschen" auf das Programm, vier Bratscher und etliche andere Instrumentalisten - viele Konzertveranstalter würden das als unverkäuflich abweisen. "Artist in residence"-Programme sind immer "etwas anders als der normale Konzertbetrieb, vor allem der Kontakt zum Publikum", sagt Tabea Zimmermann. "Es kommen Leute, die mit mir reden wollen. Und jede Begegnung hilft uns Musikern aus der Anonymität des einmaligen Konzerts heraus. Es wächst etwas, auch in den Workshops, in der praktischen Arbeit mit jungen Musikern. Das zahlt sich irgendwann aus, wenn man wiederkommt."

Workshops, Diskussionen wie die mit Elbphilharmonie-Residenzbariton Thomas Hampson, Genregrenzen überschreitende Programme oder die Anwesenheit des Künstlers bei Konzerteinführungen, das erweitert den Rahmen des Konzerterlebnisses und macht den Musikbetrieb ein wenig zukunftsfähiger. "Das Wichtigste für den Erfolg einer Residenz ist, dass es dem Künstler Spaß macht. Viele sehen darin eine Chance, verschiedene Dinge auszuprobieren", sagt Lieben-Seutter.

Rolf Beck, Intendant des Schleswig-Holstein Musik Festivals, geht im Prinzip denselben Weg. Der Schlagzeuger Martin Grubinger oder der Pianist Fazil Say prägen das Festival. Es verzichtet aber auf den Titel. "Wir haben ein so breites Angebot, dass es schwierig wäre, einen einzigen Künstler gegenüber anderen so weit herauszuheben." Bei der Elbphilharmonie hat man das Problem anders gelöst: Es gibt mehrere Artists in residence, nächste Saison den Geiger Christian Tetzlaff, das Belcea Quartet und die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen.

Im K3-Zentrum auf Kampnagel hat das Residence-Programm eine andere Zielrichtung. Seit 2007 werden jeweils drei junge Choreografen eingeladen, acht Monate zu arbeiten. Sie stellen sich hier Produktionsteams zusammen, bekommen Probenmöglichkeiten, Aufführungstage und Weiterbildung. Ein Angebot mit Sogwirkung: 110 Bewerbungen aus 35 Ländern gingen zuletzt beim Choreografischen Zentrum ein. Den Effekt beschreibt dessen Leiterin, die Tanzdramaturgin Kerstin Evert, so: "Unser Programm ist international einmalig; die zeitgenössische Tanzszene in Hamburg hat sich komplett erneuert, es gibt neue künstlerische Vernetzungen." Von den zwölf Residenzchoreografen blieben sechs in Hamburg.

Das erfolgreiche Hamburger Fördermodell inspirierte Hans Jochen Waitz zur Umgestaltung des Fleetstreet-Theaters - in ein interdisziplinäres Labor für "Artists in residence". Hier können junge Theatermacher eine Produktion erarbeiten und aufführen, aber auch ein Programm mit Film, Konzert und bildender Kunst gestalten. Für zwei bis sechs Monate werden ein Wohnatelier und Stipendien zur Verfügung gestellt.

Den Nutzen von "Artists in residence" haben nicht nur die Künstler, sondern am Ende auch das Hamburger Publikum, wenn es sich traut. Den Neugierigen bieten sich eine breitere Vielfalt, spannende Experimente und eine größere Tiefe im Kultur-Erleben.