Ein Obdachloser wäre in einem Müllwagen fast zu Tode gequetscht worden. Er ist nur einer von vielen, die täglich Unterschlupf suchen müssen.

Hamburg. Hier könnte eine Geschichte stehen, die Mitleid auslöst. Oder Häme. Vielleicht auch ein Kopfschütteln. Unverständnis oder gar Abscheu. Eine Geschichte, die von Vorurteilen lebt über die Menschen, die auf der Straße zu Hause sind, wie Jens, Peter oder Arnold. Sie sind obdachlos. Und passen doch nicht alle in eine Schublade. Weil sie aus ganz unterschiedlichen Gründen "Platte machen".

1029 sogenannte Wohnungslose gibt es in Hamburg laut offizieller Statistik. Die Dunkelziffer ist hoch. 58 Monate leben diese Menschen im Durchschnitt ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Anschrift, Wasseranschluss und Strom. Jetzt geraten sie durch einen schier unglaublichen Vorfall plötzlich in den Blickpunkt.

Dieser Vorfall ereignete sich gestern früh um 7.20 Uhr. Jens F., 49 Jahre alt, obdachlos, hat es sich in einem Papiercontainer bei den Kühnehöfen in Bahrenfeld bequem gemacht. Er hat die ganze Nacht getrunken. Jetzt will er seinen Rausch ausschlafen. Er hört nicht, wie der Müllwagen der Firma Otto Dörner auf das Gelände rollt. Er merkt nicht, wie die Greifer des Fahrzeugs den Container in die Luft heben. Mit dem Altpapier fällt der Mann in das Müllfahrzeug. Als sich der Müllwagen wieder in Bewegung setzt, beginnt die Rotationsschraube des sogenannten Rotopress-Wagens den Papiermüll zusammenzupressen. Jens F. hat Glück. Als seine Beine schon feststecken, hält der Wagen plötzlich an. Der Seitenspiegel eines geparkten Autos rettet ihm das Leben. Der Fahrer des Müllwagens hat diesen gestreift. Er steigt aus, um den Schaden zu begutachten. Er traut seinen Ohren nicht, als er Hilfeschreie aus dem Wagen hört. Und wenig später einen Mann zu Gesicht bekommt, der zwar eine blutende Risswunde auf der Stirn hat, ansonsten aber unversehrt ist.

Jens F. wird in die Zentrale Notaufnahme der Asklepios-Klinik Altona gebracht. Wenige Stunden später wird er entlassen. Er darf "nach Hause gehen". Jens F. möchte nicht über sein Leben sprechen. Er möchte nicht, dass die Leute über ihn reden. Doch über einen Menschen, der Unterschlupf, Wärme und Geborgenheit in einer Mülltonne suchen muss, wird geredet. Weil so etwas unglaublich ist. Menschenunwürdig. Unglaublich menschenunwürdig.

"Das ist grauenvoll", sagt Inka Damerau, Leiterin der Obdachloseneinrichtung Bodelschwingh-Haus. "Befremdlich", findet Behördensprecherin Julia Seifert diesen "Vorfall". "Schrecklich, so etwas habe ich noch nie gehört", sagt Wolfgang Hagedorn von der Obdachloseneinrichtung Pik As. "Wir können doch jedem Obdachlosen ein echtes Dach bieten", legt Julia Seifert nach. "Die Menschen müssen sich informieren."

Genau das aber können viele von ihnen nicht. Weil selbst ein Weg zum Amt zu viel für diese Menschen ist. "Viele von ihnen haben keine Vorstellung mehr von einem anderen Leben", sagt Inka Damerau. Sie seien körperlich und psychisch so angeschlagen, dass sie ohne Hilfe nicht aus ihrer Situation herauskommen könnten. Im Bodelschwingh-Haus finden 70 Obdachlose ein Apartment auf Zeit. Ein kleines Zimmer mit Küchenzeile und Dusche. Doch die Warteliste ist lang. Und auch im Pik As sind oft alle Betten belegt. In dem vierstöckigen Backsteinbau in der Neustadt leben Gestrandete jeder Art und mit den unterschiedlichsten Problemen: Obdachlose und Drogensüchtige, psychisch Kranke und Alkoholiker. Bis zu 300 Menschen verteilen sich hier auf 62 spärlich eingerichtete Räume. Nur die wenigsten Besucher bleiben länger als ein, zwei Nächte. Sieben Übernachtungen sind kostenlos. Wer länger bleiben möchte, muss beim Amt die Kostenübernahme beantragen.

Aber das schaffen die wenigsten. "Viele von denen, die auf der Straße leben, sind irgendwann aus dem System gefallen", sagt Peter. "Sie haben ihren Job verloren, manchmal auch die Familie, sie haben angefangen zu trinken, Drogen zu nehmen, konnten ihre Miete nicht mehr bezahlen und leben jetzt auf der Straße. Diese Menschen sind krank. Sie brauchen mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Sie brauchen jemanden, der sie an die Hand nimmt und begleitet." Peter weiß, wovon er redet. Er kennt die Szene. Peter ist 54 Jahre alt, Bauarbeiter, Veganer und obdachlos. Er lebt seit fünf Jahren "unter der Brücke". Er sei ganz bewusst ausgestiegen, sagt er. Hat seine Dreizimmerwohnung mit dem Pflaster der Straße getauscht, weil er frei sein will. "Ich wollte mir nicht mehr sagen lassen, wie ich zu leben habe." Schlafsack, Decke, Isomatte, ein Zelt und eine Kühlbox - mehr brauche er nicht. Seine Lebensmittel holt er bei der Hamburger Tafel. Er hat keinen Cent in der Tasche. Konsum lehnt er ab.

Peter hat sich eingerichtet in seiner Welt, deren Luxus die "totale Freiheit" ist. Er hat weder eine Lohnsteuerkarte noch eine Krankenversicherung. Und er will genau so leben. Sagt er.

Bei Arnold ist das anders. Er ist einer von denen, die wegwollen von der Straße. Arnold ist 23 Jahre alt. Er hat eine Ausbildung als Staplerfahrer. Jetzt findet er keine Arbeit. Also auch keine Wohnung. Manchmal verkauft er die "Hinz & Kunzt". Von seinen Ersparnissen hat er sich eine schicke Lederjacke gekauft. "Damit ich wenigstens gut aussehe", sagt er. Die Jacke versteckt er abends im Schlafsack. Damit sie ihm keiner klaut. Arnold ist optimistisch, dass er es irgendwann schaffen wird. Eine Wohnung anmieten, eine Familie gründen. Peter ist zufrieden, dass er es nicht schaffen muss. Weil er glücklich ist, so, wie er lebt. Und Jens, der hat, kaum aus dem Krankenhaus entlassen, zur Flasche gegriffen.