Der Riesenbohrer gräbt sich von Schenefeld zum Desy nach Bahrenfeld. Das Röntgenlaser-Projekt European XFEL kostet eine Milliarde Euro.

Wenn irgendwo auf der Welt ein Tunnel gebohrt werden muss, kann man davon ausgehen, dass Gunnar Reimann dabei ist. Der Hochtief-Ingenieur hat sich bereits durch den Gotthard gegraben, in Buenos Aires Röhren gebaut und auch in Singapur den Durchbruch geschafft. Der 49-Jährige ist so etwas wie ein Tunnel-Guru.

Momentan agiert er auf einer Baustelle in der norddeutschen Tiefebene. Als "Herr der Technik" lautet seine anspruchsvolle Aufgabe dieses Mal: Konzipiere eine Tunnelbohrmaschine, die sich unterirdisch von Schenefeld (Kreis Pinneberg) nach Bahrenfeld gräbt. Die zu bohrenden Röhren sind zusammen 3,2 Kilometer lang und sollen das Fundament eines der spannendsten Forschungsprojekte Europas werden. Denn was die Elbphilharmonie für Architektur-Ästheten ist, bedeuten die Tunnel des European-XFEL-Röntgenlasers für Naturwissenschaftler.

Vom Jahr 2015 an sollen in der Hauptröhre Elektronen so rasant beschleunigt werden, dass Licht von ungekannter Intensität entsteht. 13 europäische Länder beteiligen sich an dem einzigartigen Projekt, allen voran Deutschland mit den Experten in Sachen Teilchenbeschleunigung des Deutschen Elektronen Synchrotrons (Desy) mit Sitz in Bahrenfeld. Eine eigene Forschungsinstitution, die European XFEL GmbH, wurde für den Bau und Betrieb des Röntgenlasers aus der Taufe gehoben. Sie wird später ihren Sitz in Schenefeld haben.

Gunnar Reimann wurde für die Bohrarbeiten, die in 17 Meter Tiefe beginnen, engagiert. Er trägt einen schwarzen Overall, Bauhelm und eine Grubenlampe moderner Prägung. Neben ihm kauert das gewaltige Maschinenungetüm noch regungslos vor seinem Startloch. "Tunnelvortriebsmaschine" heißt der brachiale Bohrer im Fachjargon, und der Bau war laut Reimann eine Meisterleistung: "An dem Gerät haben wir mehr als ein Jahr gearbeitet", sagt Reimann. "Weil hier nicht nur geradeaus gebohrt und die Maschine mehrmals umgehoben werden muss, bedurfte die Planung besonderer Sorgfalt."

Noch immer brutzeln Schweißer die letzten Metallverbindungen des 18 Millionen Euro teuren, namenlosen Geräts zusammen. Anfang Juli soll sich der 550 Tonnen schwere Koloss, der von der Herrenknecht AG in Schwanau (Baden-Württemberg) hergestellt wurde, in Bewegung setzen. Zuvor erhält der Bohrer - wie es gute Tradition in Hamburg ist - einen Namen, und zwar bei einem Tunnelfest am 30. Juni. Erst danach soll sich die Maschine im Stil eines Monsterwurms durch den Untergrund wühlen, tonnenweise Erdreich abschälen und auf dem Weg etliche Steine zermalmen. Je nach Oberflächengefälle in sechs bis 38 Meter Tiefe.

Allein das Anlagengeflecht aus unterirdischen Röhren und Checkpunkten stellt eine Herausforderung dar. Die reine Distanz Schenefeld - Bahrenfeld beträgt zwar "nur" 3,4 Kilometer, aber insgesamt wird das System aus Tunneln knapp 5,8 Kilometer messen.

Von einem zweiten Bohrer, der im Herbst geliefert wird und nur unter Schenefelder Gelände arbeitet, müssen fünf Fächerröhren in den Boden modelliert werden. Später sollen in diesem Anlagenbereich die neuartigen Röntgenblitze ihr Spektrum entfalten, weshalb die Experimentierhalle in unmittelbarer Nähe entsteht. In 15 Meter Tiefe werden ab dem Jahr 2015 Forscher aus aller Welt ihre Proben auf 90 Breiten- und 50 Längenmetern untersuchen können. Auch sieben über- und unterirdische Gebäudekomplexe, Eingangshallen und Schächte auf den Betriebsarealen Schenefeld, Osdorfer Born und Desy Bahrenfeld gehören zum Plan. Der Baustart indes erfolgte schon im Januar 2009, wobei zunächst Grubenwände gebaut wurden (für Experten: im Schlitzwandverfahren), bevor meterdicke Sohlen unterhalb des Grundwasserspiegels folgen konnten.

Wenn Hallen, Tunnel, Hörsäle und Forschungsstationen fertiggestellt sind, wurden nicht nur knapp 550 000 Kubikmeter Erdreich bewegt. Unter Tage sollen auch erstmals Elektronen in tiefgekühlten Metallhohlkörpern auf annähernde Lichtgeschwindigkeit katapultiert werden. Bei anschließend erzwungenen Kurvenfahrten in Magnetstrukturen werden die Elektronen ultrakurze Röntgenblitze abgeben. 27 000 in der Sekunde. Das dabei kreierte Licht - es wäre das hellste der Welt - könnte ermöglichen, chemische Reaktionen zu filmen, atomare Details von Viren zu entschlüsseln oder Materie von Planeten zu untersuchen.

Bildlich gesprochen handelt es sich also um eine überdimensionale Hochgeschwindigkeitskamera. Oder um einen extrem leistungsfähigen Röntgenapparat. Wissenschaftler erhoffen sich völlig neue Erkenntnisse in der Grundlagenforschung. Erwartet wird, das unter anderem die Disziplinen Pharmazie, Physik oder Medizin profitieren, wirkungsvollere Medikamente und neue Materialen könnten entwickelt werden.

Für den auf seine Art einzigartigen Röntgenlaser, dessen Name sich aus X für Röntgen und FEL für Freie-Elektronen-Laser zusammensetzt, wird ein Röhrensystem gebraucht, dessen Haupttunnel einen Innendurchmesser von 5,30 Metern hat. Das dafür erforderliche Loch wird vom Maschinenkopf direkt im Grundwasser gebohrt, weshalb der entstehende Schacht mit 30 Zentimeter dicken Betonsegmenten sowie starken Gummidichtungen ausgekleidet wird. Die Tunnelsegmente, sogenannte Tübbings, gelangen auf einem 61 Meter langen Nachläufer bis dicht an das Schildvortriebsgerät.

Aber nicht nur das Grundwasser erfordert besonders behutsames Arbeiten. Die Tunnelstrecke unterquert auch Wohngebiete, wobei der Mieterverein zu Hamburg laut Wilfried Lehmpfuhl hofft, "dass die Tunnelbohrarbeiten keine weiteren Beeinträchtigungen für Mieter mit sich bringen". Denn noch befinden sich 50 Saga/GWG-Mieter in einer Auseinandersetzung mit dem städtischen Unternehmen. Es gehe um die Erstattung von 1,7 Monatsmieten, weil es an der Baustelle Osdorfer Born bei der Errichtung der Baugrube zu "Lärm, Dreck und Erschütterungen" gekommen sei. Nach Aussage der Tunnelexperten sollen die aktuellen Horizontal-Bohrarbeiten aber kaum merklich für Wohngebiete sein.

Der erste, unter Hamburger Gebiet gebaute Tunnel soll übrigens den Namen Herlind bekommen, nach seiner Taufpatin, der Hamburger Wissenschaftssenatorin Herlind Gundelach (CDU). Der später folgende Tunnelfächer unter Schenefeld wird als Ausgleich nach einer schleswig-holsteinischen Kabinettsfrau benannt.

Was die Tunnelbauer im Untergrund erwartet, weiß noch niemand - außer vielleicht die heilige Barbara, Schutzpatronin aller Bergleute. Sie wird am Röhreneingang als Holzfigur einen Platz bekommen und vor Schichtbeginn von den Arbeitern getätschelt werden. Tunnelbauer sind gläubige Menschen, weil nichts ausgeschlossen werden kann. Oder wie Gunnar Reimann sagt: "Vor der Hacke ist es immer dunkel."