Im oberbayerischen Eichstätt liegt die Arbeitslosenquote bei 1,3 Prozent. Wie fühlt sich das an? Ein Besuch in der Arbeitsagentur.

Eichstätt. Irgendwann musste diese Frage kommen. Schließlich sind seine älteren Söhne schon sieben und fünf Jahre alt. Papa, was arbeitest du? Man kann sich gut vorstellen, wie Stephan Vielberth reagiert hat, damals, als die Frage kam. Er hat erst mal eine Pause gemacht, etwas angestrengt durch seine Brille geschaut, überlegt. Und dann hat er gesagt: "Es kommt vor, dass manche Papas und Mamas keine Arbeit haben. Ich versuche, für diese Mamas und Papas neue Arbeit zu finden."

Stephan Vielberth, 37 Jahre alt, kennt keinen anderen Arbeitgeber als die Agentur für Arbeit. Dort hat er sich zum Diplomverwaltungswirt ausbilden lassen, und er sagt, dass er nie etwas anderes wollte als Arbeit für andere zu finden. Zuerst war er Vermittler und nach einer Personalentwicklungsmaßnahme wurde er Teamleiter. Vor einem Jahr dann Chef der Arbeitsagentur Eichstätt. Nur: Es gibt hier nur sehr wenige Mamas und Papas ohne Arbeit. Die Arbeitslosenquote beträgt 1,3 Prozent, das ist der niedrigste Wert in Deutschland. Vollbeschäftigung. Seit sieben Jahren gibt es in Eichstätt Arbeit für alle.

Vollbeschäftigung klingt nach Ludwig Ehrhard, nach den späten 50er-Jahren, als die Deutschen in die Hände spuckten und ihr Land wieder aufbauten und das Bruttosozialprodukt steigerten. Und wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel, euphorisiert von den neuesten Arbeitsmarktzahlen, eben diese Vollbeschäftigung für ganz Deutschland ankündigt, dann ruft sie Erinnerungen an die Wirtschaftswunderjahre hervor.

Unter Vollbeschäftigung verstehen Wissenschaftler eine Arbeitslosenquote unter vier Prozent. In vier bis fünf Jahren will Wirtschaftsminister Rainer Brüderle Vollbeschäftigung erreichen - in Eichstätt gibt es sie schon längst. Und Stephan Vielberth, Familienvater aus Eichstätt, ist so etwas wie der erste Repräsentant der Vollbeschäftigung. Deshalb ist er in Eichstätt ein geachteter Mann. Wenn der Bischof seine Fronleichnamsprozession macht, wenn es Vernissagen gibt, Betriebserweiterungen gefeiert werden, gehört Vielberth zu den Ehrengästen. Bayerische Spitzenpolitiker kommen gerne in der Agentur vorbei.

Man könnte meinen, dass Vielberth, 37 Jahre alt, viel Zeit für seine Söhne hat. Hat er aber nicht, sagt er.

Heute ist er um 7.10 Uhr in sein Auto gestiegen und zu dem schlichten weißen dreistöckigen Gebäude in der Bahnhofsgegend gefahren. Um Punkt 7.30 Uhr hat er den Dienst angetreten.

Zum Monatsbeginn ist in den 18 Räumen der Eichstätter Arbeitsagentur immer etwas mehr los, sagt Vielberth. Das heißt: Es sind vielleicht drei oder vier "Kunden" gleichzeitig da.

Stephan Vielberth hat einen Aktenordner zusammengestellt und eine Pinnwand vorbereitet. Jetzt steht er in seinem Anzug, dem lachsfarbenen Hemd und der glänzenden Krawatte vor der Pinnwand, macht eine Pause, schaut angestrengt durch seine Brille, überlegt. "Ja, wie fühlt sich Vollbeschäftigung an", wiederholt er.

+++ Arbeit für alle - geht das auch in Hamburg? +++

Dabei müsste er nur aus dem Fenster schauen, um die Vollbeschäftigung zu sehen. Die Eichstätter Altstadt mit ihren frischen Fassaden und prunkvollen Barockbauten. Die umliegenden Industriegebiete mit den vielen schicken Autos auf den Parkplätzen davor. Die hübschen Einfamilienhäuser der Eichstätter, an den sanften Hügeln des Altmühltals. "Ein sehr sauberes Erscheinungsbild", sagt Vielberth zufrieden. Sind die Eichstätter glücklicher als andere? "Nein, der Menschenschlag hier ist bodenständig."

Der Chef der Eichstätter Arbeitsagentur öffnet seinen Aktenordner. Zahlen mag er lieber als Gespräche über Gefühle. Seite 18, große Tabelle, Vielberth hat einen Kreis um die "Geschäftsstelle Eichstätt". Seine Zahlen sind das. 43 500 Erwerbspersonen hat der Bezirk der Eichstätter Arbeitsagentur. 573 Menschen waren im Oktober arbeitslos. 339 davon beziehen Arbeitslosengeld I, 234 Hartz-IV. Arbeitslosenquote: 1,3 Prozent. Wie geht das?

Stephan Vielberth geht zur Pinnwand und zeigt auf eine Karte. "Sehen Sie?", sagt er und macht eine energische Handbewegung quer durch seinen Bezirk. "Das ist die Autobahn. Die A 9 ist die Schlagader unserer Region." Eichstätt liegt mittendrin. In jeweils einer Stunde ist man in München, Nürnberg, Augsburg oder Regensburg. Sogar der ICE fährt nach Eichstätt. Perfekte Lage für Pendler und die vielen mittelständischen Betriebe in der Region. Vielberth deutet auf das nahe Ingolstadt. Natürlich ist es dem Autobauer Audi zu verdanken, dass es in der Eichstätter Region so viele Arbeitsplätze sowohl bei Audi selbst als auch bei den vielen Zuliefer-Betrieben gibt. Der Leuchten-Hersteller Osram hat ein Werk in Eichstätt. Dann sind da noch die Eichstätter Uni, der Bischofssitz, das Landratsamt mit vielen Jobs, unbefristeten Verwaltungsstellen. "Eine gute Grundstruktur" sei das. Und wo Arbeitsstellen sind, da ist auch Nachfrage nach Konsumgütern; es entstehen neue Bäckereien, Supermärkte und Gasthöfe.

Und natürlich der Naturpark Altmühltal, der Wanderer und Radtouristen in die Region lockt. "Absolut klasse", sagt Vielberth. Er hat soeben die Vollbeschäftigung in Eichstätt erklärt.

Vielberth bietet einen Rundgang durch seine Agentur an. Aus dem Besprechungsraum geht es in die Wartezone. Sie ist leer. Vielberth geht an den vier Mitarbeiterinnen vorbei, die im Empfangsbereich arbeiten. Er nickt wohlwollend. Die Damen sehen entspannt aus, nur eine von ihnen hat gerade Besuch von einer Kundin.

Vielberth könnte ein so glücklicher Mann sein. Wenn es die vielen Zettel in seiner Arbeitsagentur nicht gäbe. Vorne am Empfang heißt es: Koch/ Köchin, Maurer/in, Servicekraft, Anlagenmechaniker, Altenpflegerin gesucht. An der gelb gestrichenen Wand der Wartezone flattern weitere Jobangebote: Krankenschwester, Küchenhilfe, Straßenreiniger. Bislang hat sich noch niemand gemeldet, die Firmen in der Region sind verzweifelt. Der Fachkräftemangel ist die Schattenseite der Vollbeschäftigung. In Eichstätt überstieg die Zahl der erfolgreichen Arbeitsvermittlungen die Zahl der Arbeitslosenmeldungen um 400. Das klingt gut. Doch die Personalnot ist noch viel größer. "Wir können über alle Altersgruppen hinweg Stellen anbieten", sagt Vielberth. Die Arbeitgeber legen mittlerweile nicht mehr auf, wenn er sagt: "Wir haben einen Älteren." Trotzdem meldet sich niemand auf die freien Stellen. Weil es diese Arbeitskräfte nicht gibt. Wer vom Fach ist, hat einen Job. Es soll sogar Arbeitgeber in der Region geben, die sich eine erneute Krise wünschen - nur damit Arbeitskräfte frei werden.

Wer sind also die 573 Arbeitslosen von Eichstätt?

Zum einen sind es Menschen, die vorübergehend ohne Arbeit sind und schnell wieder einen neuen Job finden. Befristete Arbeitsverhältnisse, saisonale Beschäftigung gibt es auch in Eichstätt. Viele Vermittelte kommen nach wenigen Monaten zurück in die Agentur. Und sie haben gute Chancen, eine neue Anstellung zu finden.

Denn Vielberth spricht viel mit den Arbeitgebern der Region. Gerade erst hat der Steinbruch im Nordwesten des Bezirks vielen Mitarbeitern gekündigt, weil die Produktion im Winter zurückgefahren wird. Wenn der Inhaber des Steinbruchs Vielberth garantiert, dass er die Männer nach zwei Monaten wieder nimmt, lassen die Arbeitsvermittler die Betroffenen in Ruhe. Vertrauen gegen Vertrauen. Das Arbeitslosengeld ist dann eine Überbrückung.

Gibt es eine solche Job-Garantie nicht, dann sorgen die sechs Arbeitsvermittler dafür, dass der Arbeitslose einen anderen Job bekommt. Die Bedingungen sind günstig: Auf jeden Arbeitsvermittler kommen 125 Kunden. Sie organisieren Umschulungen, Weiterbildungen, Bewerbungsgespräche. In Hamburg kommen auf jeden Arbeitsvermittler 260 Arbeitslose.

Vielberth steht jetzt vor dem hellblauen Empfangsschalter und stellt seine dienstälteste Mitarbeiterin vor. Barbara Greger sitzt seit 32 Jahren am Empfang der Arbeitsagentur Eichstätt. "Ich habe ein gutes Verhältnis zu den Arbeitslosen", sagt sie. Und doch muss sie über die Menschen, die sie an ihrem Schalter empfängt, sagen: "Es sind häufig dieselben." Vielberth nickt.

Das, was von Wissenschaftlern als "Sockelarbeitslosigkeit" bezeichnet wird, gibt es auch in Eichstätt. Menschen, die von der technikgeprägten Wirtschaft nicht gebraucht werden. Menschen, die keinerlei Qualifikation haben und deshalb vom Arbeitsmarkt abgekoppelt sind. Menschen, die keine Lust haben auf Arbeit. Und Menschen mit körperlichen und psychischen Problemen.

Alle Arbeitslosen - die vorübergehenden wie auch die chancenlosen - haben eins gemeinsam: Sie fühlen sich von der arbeitenden Bevölkerung geächtet.

"Arbeit hat bei den Menschen hier einen zentralen Wert", sagt Vielberth. In den Schützenvereinen, Fußballvereinen, Trachtenvereinen treffen sich die Unternehmer und die Mitarbeiter, Zusammenhalt entsteht, der sicher auch vor mancher Kündigung schützt. Wer aus dieser grundsoliden Struktur herausfällt, ist gesellschaftlich isoliert. "In diesem Moment ist man ein Außenseiter", sagt Vielberth.

Arbeitslos in einem Kreis, der Vollbeschäftigung gemeldet hat? Das gibt es - auch an diesem Vormittag kommen Arbeitslose in die Arbeitsagentur. Sie wollen ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. "Man schämt sich für die Arbeitslosigkeit. Und man wird hier schief angeschaut", sagt ein Mann Anfang 50. Und ein anderer Arbeitsloser, Mitte 30, erzählt, dass alle in seinem Bekanntenkreis Arbeit hätten. Wenn er seine Tochter vom Kindergarten abholt, dann ist er der Exot. Der Arbeitslose.

Stephan Vielberth steht jetzt wieder vor seiner Pinnwand. Er hat Artikel aus der Lokalpresse aufgepinnt. "Im Rekordtempo aus der Krise", lautet eine Überschrift. Als die Arbeitslosenquote im vergangenen Jahr bundesweit auf über 8,5 Prozent stieg, waren es in Eichstätt gerade mal über zwei Prozent. Sein Ziel? Vielberth macht eine Pause, schaut angestrengt. "Die 1,1 Prozent wären schon toll", sagt er.

Auch, wenn er sich und seine Mitarbeiter durch weitere Erfolge gefährdet. Einen Arbeitsvermittler haben sie Vielberth in diesem Jahr schon gestrichen. Reduziert wurde auch die Fläche in der Wartezone. Der Raum war einfach zu groß und wurde halbiert.

In der verkleinerten Wartezone stehen jetzt zwei verwaiste Computer, mit denen Arbeitslose im Internet nach Jobs suchen könnten. Acht Stühle gibt es. Meistens sind sie leer.