Nach dem Suizid von Robert Enke gelobten Verantwortliche des DFB und Vereine ein Umdenken. Doch hat sich etwas geändert?

Die Biografie des Torhüters mit dem Titel "Ein allzu kurzes Leben" liegt auf seinem Nachttisch. Unberührt. "Ich habe es noch nicht geschafft, reinzuschauen", gibt Bastian Reinhardt zu und überlegt ein paar Sekunden. "Ich weiß auch nicht, ob ich das in dieser trüben Herbstzeit unbedingt haben muss." Vor fast genau einem Jahr nahm Reinhardt zusammen mit 40 000 Menschen im Stadion von Hannover 96 Abschied von Robert Enke, der an Depressionen gelitten und sich am 10. November das Leben genommen hatte. Damals war der Sportchef des HSV noch Spieler und hatte mit Jörg Neblung den gleichen Berater wie der frühere deutsche Nationaltorwart. Man kannte sich flüchtig, schätzte sich.

+++ Robert Enke: Der letzte Gang eines Torwarts +++

+++ Das kurze Leben des Robert Enke +++

Fast symbolisch stand der Sarg Enkes im Anstoßkreis des Spielfeldes, als Theo Zwanziger, der Präsident des Deutschen Fußballbundes (DFB), mit viel Pathos zum Umdenken aufforderte. "Ja, der Fußball kann ein starkes Stück Leben sein, wenn wir nicht nur wie Besessene hinter Höchstleistungen herjagen. Maß, Balance, Werte wie Fairplay und Respekt sind gefragt. (...) Ein Stück mehr Bekenntnis zur Würde des Nächsten, des anderen. Das wird Robert Enke gerecht."

Ein Tabu im Fußball hatte mit Enke plötzlich einen Namen. Und heute?

Vor ein paar Tagen, bundesweit kaum beachtet, hat erneut ein Fußballprofi einen Suizidversuch unternommen. Stefan Schumann, Mittelfeldspieler beim FSV Zwickau. Der 26-Jährige lässt seine Depressionen jetzt in einer Fachklinik behandeln und bat den Oberligaklub, seine Krankheit öffentlich zu machen. Darin sehe er eine Chance zum offensiven Umgang mit seinen psychischen Problemen, gab der Verein bekannt. Ein erster Schritt, der aber erst nach seiner Verzweiflungstat erfolgte.

Wo aber sind sie, die prominenten Fußballer, die bereit sind, ihre Schwächen offenzulegen? Die mit Tabus brechen und das Nichtfunktionieren in der Millionenmaschinerie Fußball zugeben? Wer steht dazu, anders zu sein als der muskelbepackte, gut aussehende und stets hübsch gestylte Machotyp Marke stark-unverwüstlich-diszipliniert? Zum Beispiel homosexuell?

Fehlanzeige. Ja natürlich, nach dem Tod Enkes gründeten der DFB, der Ligaverband und Hannover 96 eine Stiftung, die sich mit Depressionen und Herzerkrankungen bei Kindern beschäftigt und deren Vorsitzende Teresa Enke ist, die Witwe Roberts. Der DFB träumt ebenfalls davon, seine Trainer so auszubilden, dass sie in der Lage sein werden, psychische Erkrankungen frühzeitig zu erkennen. Die Trainer sollen in der Ausbildung der kickenden Elite auch Pädagogen sein, nicht nur Fußballlehrer. Aber die hohe Mauer des Schweigens, sie steht sicher, beginnt noch nicht einmal zu bröckeln. Und auch die Medien bejubeln wie zuvor Bestleistungen und kritisieren das Versagen der gut bezahlten Kicker.

"Der Fußball ist heute ein Zirkus wie Brot und Spiele", glaubt HSV-Trainer Armin Veh. "Wir alle befinden uns in einem Haifischbecken. Friss oder stirb, so das Motto. Es ist einfach: Die Stärksten spielen, für die Schwachen ist kaum Raum. Und daran wird sich nichts ändern, außer man schafft den ganzen Hype um den Fußball herum ab. Aber wer soll damit anfangen?" Seine unausgesprochene Antwort: keiner. Die ehrliche, aber bittere Erkenntnis Vehs lautet: "Kein Verein wird einen Spieler, von dem man weiß, dass er an dieser Krankheit leidet, verpflichten. Vielleicht wäre es auch besser für den Spieler, diesen Beruf nicht mehr auszuüben."

St. Paulis Spieler Andreas Biermann hat genau dieses Schicksal erlebt, allerdings unfreiwillig. Der 30-Jährige ging den mutigen Weg und vertraute sich einen Tag nach Enkes Tod seinem Trainer Holger Stanislawski an: Spielsucht, Depressionen, schließlich der Selbstmordversuch mit Autoabgasen - Biermann war am Ende. Heute geht es ihm persönlich besser, er kämpft darum, dass die Öffentlichkeit versteht, dass diese Krankheit sehr wohl zu behandeln ist. Aber mit seiner Profikarriere ist es vorbei. Biermann ist vereinslos und rät Spielern nun zwar, unbedingt professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, ihre Krankheit aber geheim zu halten.

Der Kontakt zwischen Biermann und Stanislawski ist inzwischen abgerissen, das letzte Telefonat liegt schon einige Zeit zurück. Geprägt hat den Trainer die Erfahrung dennoch. "Der Fall Biermann hat uns alle sensibilisiert. Ich mache mir schon häufig Gedanken darüber, bin aber auch nicht davor gefeit, dass mich der Alltag einholt." Stanislawski glaubt, dass viele nach Enkes Tod die Absicht hatten, etwas zu ändern, aber: "Unterm Strich ist dabei zu wenig herausgekommen."

Vielerorts herrsche noch Unwissenheit und Angst, wie mit derartigen Krankheiten umzugehen ist. Dadurch wäre es schwerer für die Betroffenen, sich zu outen und offen damit umzugehen. "Ich kenne viele Menschen, die bei solchen Themen zumachen und nichts davon wissen wollen." Gleiches hat auch Reinhardt vom Lokalrivalen HSV beobachtet: "In der Kabine mit Kollegen über private Probleme zu sprechen, das macht man einfach nicht. Das ist eben so eine typische Männersache."

Nicht nur Krankheiten haben in der testosterongesteuerten Fußballwelt nichts zu suchen, gleiches gilt für Homosexuelle. Sie gleichen Phantomen. Man spricht über sie, in den Medien und in den Stadien. Gerüchteweise. Aber die Fußballwelt schweigt sich aus, beharrlich. Homosexualität, in unserer Gesellschaft mittlerweile allgegenwärtig, ob in der Politik oder im Showbiz, existiert auf dem Platz nicht. "Schwule werden mit Schwäche assoziiert, mit den typischen weiblichen Eigenschaften", sagt Marcus Urban, der bis heute einzige deutsche Fußballspieler, der sich getraut hat, von seinem jahrelangen Doppelleben zu erzählen, von der Angst, entdeckt zu werden. Aber erst drei Jahre nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn 1991.

Warum auch dieses Tabu unantastbar bleibt? "Ein Bürgermeister geht halt nicht mit anderen Abgeordneten duschen", sagt Urban. Vorurteile und Unwissenheit sind noch weit verbreitet, genau wie beim Thema Depression. Ein Großteil der Fans, ist er sicher, sei sich nicht bewusst, wie verletzend Ausrufe wie "schwule Sau" sein könnten.

DFB-Präsident Theo Zwanziger versucht mit Nachdruck gegen sexuelle Diskriminierung vorzugehen. In der Arbeitsgruppe für Anerkennung und Toleranz, die sich verstärkt mit homophoben Äußerungen und Aktionen im Stadion beschäftigen soll, sitzt Tatjana Eggeling. Das Totschweigen von Homosexualität sei besonders in der Funktionärsebene verhaftet, hat sie beobachtet. Auch soll es Vereinsverbindungen zu Agenturen geben, die homosexuellen Spielern Frauen für öffentliche Auftritte vermitteln. "Es werden Scheinbeziehungen eingegangen", sagt Eggeling.

Wie diese Lügen und die Selbstverleugnung im Fußball eingedämmt werden können, weiß im Grunde noch niemand. 2011 beginnen die Dreharbeiten zum Film "Versteckspieler", basierend auf den Erfahrungen Urbans. Auf der fiktiven Ebene kann seine Geschichte so einen Beitrag zur Aufklärung leisten, die verlogenen Mechanismen aufzudecken. Doch viele Experten wie auch der anerkannte Soziologe Gunter A. Pilz raten weiter davon ab, sich zu outen.

Innerhalb seiner Mannschaft, sagt HSV-Profi und Nationalspieler Marcell Jansen, sei Homosexualität kein Thema. "Gerüchte gibt es sicher schon mal. Aber bislang ist keiner aufdringlich geworden." Problematisch, glaubt er, sei ein Bekenntnis eines Mitspielers nicht. Auch wenn er nicht damit rechnet.

Immerhin, Bewegung gibt es hinsichtlich der psychologischen Betreuung. Beim HSV kümmert sich seit dieser Saison der Sportpsychologe Dr. Thorsten Weidig hauptamtlich um die Persönlichkeitsentwicklung der Nachwuchsspieler und soll künftig auch den Bundesligaprofis zur Verfügung stehen, damit der Leistungsdruck möglichst nicht dazu führt, eine schwächere Form einer schon vorhandenen psychischen Erkrankung zu verstärken. Beim FC St. Pauli, wie bei den meisten Bundesligaklubs, gibt es dagegen noch keinen fest angestellten Psychologen im Verein. Die Verantwortlichen haben den Spielern aber ans Herz gelegt, dass sie auch mit speziellen Problemen jederzeit zu ihnen kommen könnten, damit man ihnen professionelle Hilfe vermitteln kann. Ob das ausreicht? Schließlich bleibt die Umsetzung ein schwieriges Feld. Wer sich mitteilt, ist nicht mehr anonym, muss um die Vertraulichkeit und seinen Status in der Gruppe fürchten - und um seine Fußballerexistenz.

HSV-Sportchef Reinhardt setzt auf den Faktor Zeit. "In zehn Jahren wird die Arbeit eines Psychologen oder Mentalcoaches in Fußballvereinen so normal sein wie die eines Leistungsdiagnostikers", prophezeit er, schließlich gehöre das Kopftraining genauso zum Fußball wie Technik oder Taktik. Der unlösbare Konflikt für Cheftrainer wie Veh oder Stanislawski, den Konkurrenzkampf zu schüren und zugleich jeden Spieler mit dem nötigen Vertrauen auszustatten, bleibt jedoch - und nagt auch an denen, die entscheiden müssen, wer gut genug ist, vor Zehntausenden zu spielen. "Ich hatte immer wieder Selbstzweifel", sagt Veh und erklärt, er habe früher einen Helm aufgehabt, wäre unfähig gewesen, an etwas anderes als Fußball zu denken. Gefangen war er in seiner Scheinwelt, in der er sich für die wichtigste Person überhaupt hielt. Schließlich sollte er vor allem funktionieren. Genau wie die Spieler. Und schweigen.

Dieses Schweigen aufzubrechen wird noch Jahre dauern. St. Paulis Manager Helmut Schulte sagt es bedauernd, aber realistisch: "Wer die Hoffnung hatte, dass sich in der Gesellschaft grundsätzlich etwas ändert, der sieht sich getäuscht."

Mitarbeit: Bastian Henrichs