Loki Schmidts Jugend. Die Zeit, als ihr Schulfreund Helmut Schmidt sie zu seinem Geburtstag einlud - als einziges Mädchen.

Hamburg. Vielleicht wäre ja alles ganz anders gekommen, wenn Loki Glaser bei diesem Kindergeburtstag nicht ihre Baskenmütze liegen gelassen hätte. Zehn Jahre war sie alt. Und ihr Schulfreund Helmut Schmidt aus der Sexta der Lichtwarkschule hatte sie zu seinem Geburtstag zu sich nach Hause eingeladen. Als einziges Mädchen. Es gab Kakao und Kuchen, und danach wurde eine große Schüssel voller Kirschen auf den Tisch gestellt. Wettessen! Loki gewann, sie hatte am Ende die meisten Kirschkerne auf dem Teller.

"Aber es gab ein Nachspiel, das mich für die nächsten 80 Jahre geprägt hat", schreibt Helmut Schmidt später. "Loki hatte nämlich ihre Baskenmütze bei uns liegen lassen, und meine Mutter hat mir gesagt, ich solle ihr die Mütze nach Hause bringen." Also ging er eine Dreiviertelstunde zu Fuß in die Baustraße nach Hamm. "Die Ärmlichkeit der kleinen Zweizimmerwohnung im Hinterhof, dunkel, doch voller Kinder und Erwachsener, hat bei mir einen Schock ausgelöst", schreibt Schmidt. "Ich erinnere noch meine spontane Reaktion: Das ist ungerecht, es muss mehr Gerechtigkeit geben in der Welt!"

Doch damit sollte es für lange Zeit nichts werden. Die Weltwirtschaftskrise traf vor allem die Armen. Auch Lokis Vater Helmut Glaser verlor seinen Job. Sechs lange Jahre war er arbeitslos. Er hatte als Betriebselektriker beim Arbeitsamt gearbeitet. Erst Ende 1937 bekam er wieder Arbeit bei einer Firma im Hafen, die elektrische Geräte für Schiffe herstellte.

Wenige Monate zuvor im Sommer hatten Loki und Helmut Schmidt ihr Abitur bestanden. Nach acht gemeinsamen Schuljahren auf einer fortschrittlichen Schule, deren Kollegium sich den Ideen des Kunsthallendirektors Alfred Lichtwark (1852-1914) verbunden fühlte. Er lehrte, dass für die Bildung des Menschen der Umgang mit der Kunst, nicht nur betrachtend, sondern auch ausübend eine große Rolle spielen muss. Es gab Kulturkunde-Unterricht, eine Zusammenfassung von Deutsch und Geschichte. Die Naturwissenschaften kamen ebenfalls nicht zu kurz, und es gab jeden Tag Sport. Im Sommer häufig im Stadion am Stadtpark.

"Wir hatten großes Glück mit der Schule", hat Loki später immer gesagt. Und dafür nahm sie auch einen langen Schulweg in Kauf. Eine Stunde brauchte sie von Horn für die sieben Kilometer. Zuerst durch Schrebergärten, die später der Sievekingsallee weichen mussten, zu Fuß bis zum Bahnhof Hasselbrook. Dann weiter mit der Bahn bis zur Haltestelle Alte Wöhr. "Von dort im Eilmarsch durch den Stadtpark", erinnerte sie sich später in einem Beitrag für das Hamburger Abendblatt. "Über die kleinen Wege im Osten von Fritz Schumachers hinreißend geplanter großer Grüninsel, am See vorbei und mit Blick auf den Wasserturm."

Der Rückweg dauerte manchmal noch länger. Da konnte es schon vorkommen, dass sie zu ihrer Mitschülerin Gesa sagte: "Lass uns bloß laufen - da hinten kommen die Schmidt-Jungens!" Gemeint waren Helmut und sein Bruder Wolfgang. In Wirklichkeit aber konnten Loki und Helmut auf den Stadtparkwegen stundenlang diskutieren. "Wir konnten uns so schön zanken." Sie redeten über Gott und die Welt, stritten sich darüber, was wichtiger ist: das Gefühl oder der Verstand. Und zu gerne provozierten sie sich. "Einer behauptete immer das Gegenteil von dem, was der andere gerade gesagt hatte." Am Ende aber gingen sie immer freundschaftlich auseinander. "Es war schon merkwürdig mit uns: Er war der Kleinste der Klasse, ich die Längste." Und Loki konnte zulangen, wenn die Jungs die Mädchen als "Weiber" abtaten. "Dann habe ich mich geprügelt, um denen Benimm beizubringen. Sie nannten mich Schmeling."

Acht Jahre lang wurde der Stadtpark zu dem vielleicht wichtigsten Ort in ihrem jungen Leben. Hier rauchte sie mit zehn oder elf Jahren ihre ersten heimlichen Zigaretten - Marke Greiling Schwarz-Weiß zu zweieinhalb Pfennig das Stück. Hier hatte sie ihre ersten echten Begegnungen mit der Pflanzenwelt: "Die Augen gingen mir über, denn zu Hause hatten wir keinen Garten."

Und hier bekam sie den ersten Kuss, "von Helmut natürlich". Da war er "vielleicht 15". Gemeinsam besuchten sie Leseabende bei einer Lehrerin, die ihnen Goethe und die Sprache Thomas Manns nahebrachte.

Draußen aber, außerhalb dieser kleinen Welt, braute sich etwas zusammen. Die Nazis hatten 1933 die Macht übernommen, und Loki Schmidt musste in den Bund Deutscher Mädel (BDM) eintreten, um auf der Lichtwarkschule bleiben zu dürfen. Dort war 1934 Oberstudiendirektor Erwin Zindler eingesetzt worden, um die Lehranstalt im nationalsozialistischen Sinne umzukrempeln. 1937 wurde die Reformschule geschlossen.

Dass Loki in den BDM eintreten sollte, hatte der Familienrat beschlossen. In Hamburg probte in diesen Jahren die Swing-Jugend den zumindest musikalischen Aufstand gegen die neuen Machthaber. Die meisten dieser Jazz-Freunde kamen aus "besserem Hause" - eine andere Welt als die der "Proletarierin" Loki. Im BDM probte sie mit anderen Mädchen auf der Bratsche. "Eine Führerin fand, ich sollte in das BDM-Orchester kommen. Das war ein Glücksfall." Die Dirigentin Gisela Janssen hielt die Politik aus der Musik heraus. "Eine fabelhafte Musikerin und außergewöhnliche Frau", hat Loki Schmidt später erzählt. Für Loki war das BDM-Orchester, "und das habe ich erst später begriffen, eine Art Schutzschild". In den Studentenbund eintreten? Nein, sie war ja im BDM-Orchester. In die Partei eintreten? Nein - das Orchester. Ihre Eltern waren "linkssozialistisch" eingestellt, "und wir waren alle der Meinung, das kann ja nicht ewig dauern mit den Nazis".

Doch als dann Adolf Hitler Hamburg besuchte und die Schulen geschlossen wurden, damit alle Schüler vom Flughafen bis zur Innenstadt Spalier stehen konnten, bekam das junge Mädchen hautnah zu spüren, welche Wirkung von dem nationalsozialistischen Führer auf die Massen ausging. In ihrem Buch "Erzähl doch mal von früher" erinnert sich Loki Schmidt im Gespräch mit Reinhold Beckmann: "Ich stand an der Alsterdorfer Straße und hatte mir fest vorgenommen: Du nimmst nicht die Hände hoch und schreist. Ich war fest entschlossen. Und dann brauste es. Und plötzlich merkte ich: Du hast die Hand oben. Ich habe mich so wahnsinnig geschämt."

Ihr Vater hat ihr dann einen Vortrag über Massenpsychologie gehalten und gesagt: "Du brauchst dich nicht zu schämen. Du bist einfach mitgerissen worden, und nun vergiss es."

Als 1939 der Krieg ausbrach, musste Helmut Schmidt zum Militär, Loki machte nach nur vier Semestern Lehrerstudium ihr Examen - für Volks- und Mittelschulen. Sie sahen sich erst 1940 wieder. In Berlin. Helmut hatte einen Brief geschrieben, Loki bekam Urlaub. Sie war in der Kinderlandverschickung, wo sie "rund um die Uhr für 23 Mädchen von neun bis 15 Jahren verantwortlich war", zusammengeklappt. Im Dunkeln, am "Nollendorf-Bahnhof haben wir dann verabredet: Wenn Helmut heil aus Russland zurückkommt, dann wollen wir mal richtig heiraten."

Sie heirateten am 27. Juni 1942. Lokis Vater Hermann sagte zu Helmut: "Du kennst sie ja lange genug. Du musst also wissen, was du tust. Aber bring sie mir ja nicht wieder zurück."

Als die Bomben im Sommer 1943 Hamburg in Schutt und Asche legten, zog Loki nach Bernau bei Berlin. Sie wurde schwanger und brachte am 26. Juni 1944 ihr erstes Kind zur Welt. Sie war allein, als "Moritzlechen" sieben Monate später an einer Gehirnhautentzündung starb. Kein Mann, kein Arzt, keine Medikamente. "Drei Tage ohne Essen, mit einem wimmernden Kind, dem man nicht helfen konnte - das wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht", hat sie gesagt.

Und: "Wer da meint, dass Jammern und Wehklagen hilft, der ist verloren."

Sie hat ihr Kind alleine begraben und ist im Februar 1945 vor den Russen von Berlin nach Hamburg geflohen. "Drei Tage dauerte die Zugfahrt. Die Wagen waren völlig überfüllt. Auf dem Schoß hatte ich ein schreiendes Kind, dessen Mutter nicht zu finden war. Wir hatten kaum zu essen, aber es wurde geteilt, was da war."

Wenige Monate später die Kapitulation. Loki war 26 Jahre alt, als ihr zweites Leben begann. "Mein ganzes Leben ist außergewöhnlich", hat sie später einmal gesagt. "Und schuld daran ist nur der Zufall. Der Zufall, dass ich ... einen Mann namens Helmut Schmidt geheiratet habe."

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