3000 Schiffswracks liegen unentdeckt auf dem Grund der Meere, vermuten Experten. Ein Hamburger Unternehmer hat bereits 15 geborgen.

Hamburg. Die Wand war viereinhalb Meter hoch und fast 40 Meter lang. Sie befand sich in 60 Meter Tiefe auf dem Meeresgrund. Ein gigantisches Gebilde aus blau-weißem Porzellan. Nikolaus Graf von und zu Sandizell zog vorsichtig einen Teller aus dem imposanten Unterwasser-Gemäuer, auf das die Schatzsucher im dunklen Ozean so urplötzlich gestoßen waren. Dann tauchten sie mit dem wertvollen Fund wieder nach oben. Sie hatten eines der bisher größten Porzellan-Wracks gefunden.

48 Stunden zuvor waren sie mit einem Fischer auf einem acht Meter langen Boot "voll mit Küchenschaben" zu einer Stelle gefahren, an der ein Schiffswrack liegen sollte. Als sie dort ankamen, war das Wrack bereits von Piraten geplündert worden. Sie sind dann umgekehrt, als der Fischer mit einem Mal auf die Idee kam, noch zu einer anderen Stelle zu fahren. Also nahmen sie noch einmal einen Umweg von 18 Stunden in Kauf. Als sie in diesem Gebiet morgens um vier Uhr ankamen, beschlossen sie, die Meeresfläche mit einem hoch empfindlichen Sonargerät sechs Stunden lang nach möglichen Unterwasserschätzen abzusuchen. Kurz vor dem Aufgeben sagten sie sich: "Okay, noch 30 Minuten." 15 Minuten später zeigte das Gerät den Treffer an.

Graf Sandizell, 51, den seine Freunde Niki nennen, kommt nicht wie ein Bilderbuchabenteurer daher. Kein bärtiger Riese, der dröhnend erzählt oder Schenkel klopfend Seemannsgarn spinnt. Ein höflicher, eher zurückhaltender Mann sitzt im sechsten Stock in der Speicherstadt in den Räumen der Modefirma Arqueonautas, die er gegründet hat, um mit einem Euro pro verkauftem Kollektionsteil seine weltweite Suche nach versunkenen Schätzen zu finanzieren. Unaufgeregt schildert er den fantastischen Porzellanfund auf dem Meeresgrund. "Ich habe gelernt zuzuhören, zu schweigen und zu staunen", sagt er. "Und offen zu sein für das Unerwartete."

Mit 16 entdeckte er beim Tauchen in der Karibik sein erstes Wrack

Das hatte er nämlich verloren. In seinem ersten Leben, als er noch als Manager für einen großen deutschen Konzern um den Globus hetzte. Heute Mexiko und morgen Indonesien, zuletzt Spanien und Portugal. Mit 36 Jahren fragte er sich, ob er das jetzt so bis zur Rente weitermachen sollte. Seine Antwort: "Nein, ich muss noch mal was Aufregendes machen." Man kann auch sagen, er hatte die Oberflächlichkeit satt und ist buchstäblich abgetaucht, um den Dingen fortan wirklich auf den Grund zu gehen.

Nach Schätzungen der Unesco sind mehr als drei Millionen Schiffe im Laufe der Jahrhunderte untergegangen. Von Piraten versenkt, im Sturm zerschellt, in Kriegen zerstört. Spanische Galeonen, asiatische Dschunken. Voll beladen mit Gold- und Silbermünzen, Wein- und Cognacflaschen, Elfenbein und Schmuck, Krügen und Kanonen. 3000 Schiffe, so glaubt man, bergen womöglich noch unfassbare Reichtümer oder sind kulturhistorisch relevant. Und so hat rund um den Globus vor etwa 15 Jahren ein milliardenteures Wettrennen zwischen seriösen Bergungsunternehmen und skrupellosen Piraten um dieses versunkene Weltkulturerbe begonnen.

50 Kilometer nördlich von München liegt das Schloss Sandizell bei Schrobenhausen. Es ist in Familienbesitz, und Graf Nikolaus wurde als Erstgeborenem das prächtige Anwesen überschrieben. Das Geschlecht derer zu Sandizell lässt sich bis 948 zurückverfolgen. Hat der Graf dazu noch Wälder und Seen, Bedienstete, Pferde und Luxuskarossen? "Schade, dass Sie nicht mein Banker sind", sagt er und lacht. Nein, er bewirtschaftet das Schloss mit seinem jüngeren Bruder Tassilo. Veranstaltet werden dort Hochzeiten und Mittelalterfeste, Weihnachtsmärkte und Verkaufsmessen. "Wir unternehmen alle möglichen Klimmzüge, um das Schloss in die nächste Generation zu retten", sagt Nicki. Tassilo sagt, dass Nicki schon im Internat der Abenteuerlustigere von beiden gewesen ist. "Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist er kaum davon abzubringen."

Als Nicki 16 Jahre alt war, entdeckte er beim Tauchen in der Karibik in 20 Meter Tiefe sein erstes Wrack. "Das war sicher eine Art Schlüsselerlebnis", sagt er, den am Unterwasserdasein vor allem der physische Zustand der Schwerelosigkeit fasziniert. "Als würde man fliegen." Es sollte dann aber noch 20 Jahre dauern, bis er sein Hobby zum Beruf machte.

Heute sagt er, dass er keinen Beruf kennt, der mehr Risiken beinhaltet. Sandizell und seine zwölf fest angestellten Mitarbeiter - alles internationale Spezialisten - sind Taucher, Archäologen, Detektive, Restauratoren, Kaufleute und Geldeintreiber. Um irgendwann bei diesem Job mit Tiefgang auf seine Kosten zu kommen, muss zuvor eine Fülle höchst komplexer Fragen geklärt sein. Wo liegen genügend Wracks, damit sich die Bergung, die rund 5000 Euro pro Tag verschlingt, auch lohnt? "Ich tauche niemals nur nach einem Wrack", sagt Graf Sandizell. Also steht am Anfang ihrer Arbeit die monatelange akribische Recherche in den Archiven. Historie aufsaugen, Logbücher lesen, Schiffstypen unterscheiden.

So stießen sie auch auf die Geschichte der gesunkenen "San José", Flaggschiff der Flotte von Francisco da Gama. Der Urenkel des portugiesischen Entdeckers Vasco da Gama, der 1498 den Seeweg nach Indien in das Land der Gewürze und Seide gefunden hatte, hatte sich 1622 mit Kisten voller Silbermünzen ebenfalls auf den Weg nach Goa gemacht. Holländer und Engländer wollten damals die Vorherrschaft der Portugiesen im Indischen Ozean brechen. Vor der Küste Mozambiks kam es im Juli jenes Jahres zur Seeschlacht, die sich über zwei Tage hinzog. Schließlich versank die "San José" mitsamt ihrer wertvollen Fracht.

Ein Vorläufer des Sextanten war der kulturhistorisch wichtigste Fund

Fast 400 Jahre später ist ihre Bergung abgeschlossen. Mehr als 200 wertvolle Objekte wurden hochgeholt, darunter vier Bronzekanonen, die dem Marinemuseum Mozambik übergeben wurden. Außerdem rund 20 000 Silbermünzen. "Kommerziell ist die Bergung der ,San José' mit einem Wert von fünf Millionen Euro unser bisher größter Erfolg", sagt Graf Sandizell, der mit seinem Team seit 1995 mehr als 300 Wracks entdeckt und 15 von ihnen geborgen hat. Darunter ein spanisches Schiff vor den Kapverden mit Goldmünzen oder die "San Sebastian" mit Porzellan aus der Ming-Dynastie aus der Mitte des 16. Jahrhunderts und rund zwölf Kilogramm Gold.

Kulturhistorisch jedoch nennt er die Entdeckung eines versilberten Astrolabiums von 1645 - Vorläufer des Sextanten - auf einem spanischen Handelsschiff als bisher größten Fund. "Das Wrack war völlig zerstört", erinnert sich Sandizell an den spektakulären Tauchgang, aber das weltweit einmalige Astrolabium, das heute im Marinemuseum in Virginia steht, war zwischen zwei Felsen so eingequetscht, "dass es 350 Jahre unter Wasser relativ unbeschadet überstanden hat."

Ein Magnetometer hilft beim Orten metallischer Gegenstände

Bevor die Jäger der versunkenen Schätze jedoch abtauchen dürfen, brauchen sie die Lizenz zum Suchen. Und um die zu bekommen, sind meist zähe Verhandlungen mit den jeweiligen Landesregierungen um die exklusiven Rechte nötig - und um die Verteilung der Funde. "In der Regel werden wertvolle Unikate an das Land abgetreten, und der Nettogewinn aus den Verkaufserlösen wird geteilt", sagt Sandizell. Dem es aber auch schon passiert ist, dass während der manchmal monate- oder sogar jahrelangen Bergung die Regierung wechselt. "Das ist dann das politische Risiko, dann muss wieder ganz neu verhandelt werden."

Das kostet oft genauso viel Kraft und Geduld wie die Suche selbst, bei der heute modernste Geräte zum Einsatz kommen. Wie der Magnetometer, der im Schlepptau hinter dem Schiff hergezogen wird und minimale Abweichungen des natürlichen Erdmagnetfeldes aufspürt - hervorgerufen durch metallische Gegenstände. Und bei der sie trotzdem abhängig sind von Wind und Wetter, von heftigen Stürmen und gefährlichen Strömungen, die eine Bergung oft zu einem höchst riskanten und manchmal sogar aussichtslosen Unterfangen machen.

Sie riskieren viel. Graf Sandizell, der selbst jeweils zu Beginn und am Ende jeder Expedition zum Wrack taucht, ist Vater von fünf Kindern. "Anderthalb bis 24 Jahre alt, meine größten Schätze." Er ist mit einer Portugiesin verheiratet, lebt in Estoril und gibt zu, dass "das Adrenalin" einen Teil der Faszination seines Jobs ausmacht. Aber es geht ihm bei seiner Arbeit um mehr als einen erhöhten Pulsschlag. "Ich habe bei jedem Wrack, das wir bergen, das Gefühl, der Menschheit etwas zurückzugeben, was verloren war."

Kritiker werfen ihm vor, es gehe ihm und seinem börsennotierten Unternehmen zwangsläufig in erster Linie um den kommerziellen Erfolg. Da sei dann kein großer Unterschied mehr zu den illegalen Plünderern der Weltmeere. Je intensiver das Wettrennen wird, desto heftiger ist auch die Diskussion: Wem gehören die Schätze der Meere? Und darf man sie überhaupt bergen?

Sandizell hat mit Margret Rule und dem Oxford-Professor Mensun Bound zwei der angesehensten Meeresarchäologen als Berater an seiner Seite. Er wünscht sich, "dass die Unesco endlich ihre Haltung aufgibt, die Wracks auf dem Meeresboden zu lassen". Denn dort würden sie manchmal innerhalb von Wochen von Piraten geplündert. "Und dann ist das, was die Unesco eigentlich schützen wollten, rettungslos und für immer verloren."

Den Porzellanteller aus der gewaltigen blau-weißen Unterwasserwand hat Graf Sandizell übrigens nicht behalten. Wie sich nach dem sensationellen Fund herausstellte, hatte für dieses Wrack bereits ein Mitbewerber die Bergungslizenz erhalten. Und deswegen darf der Graf auch noch nicht verraten, in welchem Ozean und vor welcher Küste sich diese abenteuerliche Geschichte über einen der vielen versunkenen Schätze zugetragen hat.