Den Hochsommer in Timmendorfer Strand an der Ostsee hatten sich viele Urlauber anders vorgestellt. Doch sie machen das Beste daraus.

Timmendorf. Die Gäste in Zimmer 916 haben das Fenster auf Kipp gestellt. Jeder, der daran vorbeigeht, kann es hören. Wie der Wind mit Stärke 7 durch den schmalen Spalt dröhnt. Ein Geräusch wie das Brummen einer Motorsäge. Frontal knallt der Sturm an die Front des Grand Hotels Seeschlösschen in Timmendorfer Strand. Er kommt direkt vom Meer aus Richtung Nordost. Mit ganzer Kraft schiebt er die See Richtung Strandpromenade. Treibt den Regen fast senkrecht in den kleinen Ort an der Ostseeküste. Die Wetterstation an der Tourismuszentrale im Ortskern zeigt 15 Grad. Die Wolken hängen regenschwer über der See.

Nur ein paar Hartgesottene haben sich auf die Strandpromenade gewagt. Mit Wollmützen, Regenjacke und festem Schuhwerk. Die Kapuze weit über die Stirn gezogen, jagt Matthias Radelf über den feuchten Sand. Über ihm flattert ein kleiner blauer Drachen. Ein Farbtupfer gegen den dunkelgrauen Himmel. Im Kinderwagen lauscht Söhnchen Vincent dem Gebrüll des Meeres. Seine Brüder Anton, 5, und Justus, 2, sind wasserdicht verpackt, in Regenhosen und Windjacken. Dabei hat sich die Familie aus Ottensen auf ganz andere Ferien eingestellt. Auf lange Tage im Strandkorb, Burgenbauen und ein Bad in der Ostsee. Es soll der letzte "unabhängige" Sommerurlaub werden, bevor Anton im kommenden Jahr eingeschult wird. Zehn Tage haben sie sich gegönnt und eine Ferienwohnung angemietet, drei Zimmer für fünf Personen. Sie haben die Schwimmflügel eingepackt und die große Schaufel. Sie haben Badehosen besorgt, Sonnencreme und Käppis. Jetzt stehen sie im Regen. "Wir machen das Beste draus", sagt Mutter Heike Radolf. Und: "In Hamburg ist das Wetter ja auch nicht besser."

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Ein paar Meter weiter kämpft Andreas Walter aus Aumühle mit dem Regenschutz des Fahrradanhängers. Dicke Tropfen klatschen auf die sperrige Folie. Im Anhänger sitzen die Zwillinge Jonni und Mizzi, 4, und lutschen an einer Schleckmuschel. Richtige Muscheln am Strand haben sie in diesem Urlaub noch keine gesammelt. Stattdessen haben sie in der Ferienwohnung gehockt, Bilderbücher angeschaut, die Brio-Bahn aufgebaut und genörgelt. Natürlich, an der Ostsee seien sie auch schon gewesen, sagt der Vater. Bis zu den Knien sei er in das 18 Grad kalte Wasser gestapft. Dann hat er seinen "Kneippkururlaub" unterbrochen. Jetzt geht es anstatt zur See Richtung Binnenland. Sieben Kilometer will er mit den Kindern radeln. Nach Warnsdorf zu Karls. Das ist ein Erlebnishof mit Ponyreiten und Stockbrot, mit einer "Erdbeer-Band" und Indoor-Spielplatz. Für Andreas Walter und viele Tausend Ostseebesucher in diesen Tagen die vielversprechende Strandalternative.

"Wir profitieren vom schlechten Wetter", freut sich Geschäftsführerin Ulrike Dahl, die seit 57 Jahren für einen Lichtblick an verregneten Urlaubstagen sorgt. Das Programm ist kostenlos, die Tasse Kaffee wird nur einmal bezahlt und kann 17-mal wieder aufgefüllt werden. "Das wissen die Gäste zu schätzen", sagt Christian Jaletzke. Jaletzke ist Tourismuschef. Normalerweise wirbt er mit dem Slogan: "Wir haben 375 Sonnentage im Jahr." Er findet das lustig. Auch wenn dem gar nicht so ist. Aber alles sei eben Einstellungssache. Und dann legt er los. Timmendorfer Strand sei bei jedem Wetter attraktiv. Da gebe es das Meerwasserhallenbad in Niendorf, den Vogelpark mit der größten Eulensammlung Europas und das Sea Life Center. Und überhaupt, schlechtes Wetter gebe es nicht, findet Jaletzke, der mit einer Erkältung im Bett liegt, während draußen der Starkregen an die Fenster trommelt.

"Rekordniederschlag" heißt dieses Phänomen in der Fachsprache. Und passend zu den Wetterextremen prophezeit Klimaforscher Stefan Hagemann vom Max-Planck-Institut Schauerliches. "An dieses Extremwetter muss man sich langsam gewöhnen. Wenn es regnet, dann wird es stärker regnen." So nass wie in diesem Jahr sei der August in Deutschland noch nie gewesen. Pro Quadratmeter fielen im Durchschnitt rund 160 Liter Regen, der Mittelwert liege aber nur bei 77 Litern.

An solche Prognosen haben Markus und Judith Bolz aus Fulda nicht gedacht, als sie im März ihren Sommerurlaub an der Ostsee buchten. Es sollte die erste Stranderfahrung für Tochter Franzi, 2, werden. Für 80 Euro am Tag hat der Kfz-Mechaniker ein Appartement gemietet. 14 Tage wollen sie bleiben, den Strand, die See genießen, die sie eben nicht alltäglich vor der Haustür haben. 478 Kilometer haben sie dafür zurückgelegt. Sie haben Sandförmchen besorgt und einen Badeanzug für die Kleine. Doch anstatt die See live zu erleben, haben sie sich in die Besucherschlange vor dem Sea Life an der Promenade eingereiht. Statt einer Strandkarte für drei Euro holt Vater Bolz eine Tageskarte für das Unterwassererlebnis. Knapp 40 Euro zahlt die dreiköpfige Familie für einen Besuch der 3500 Tiere an der Ostsee, in die sie doch viel lieber selbst eintauchen würde.

Die See aber ist gesperrt. DLRG-Mann Christoph Jansen hat um 11.10 Uhr Ortszeit die rote Flagge gehisst. "Hier herrscht absolutes Badeverbot", sagt er. Die Wellen seien eineinhalb Meter hoch, die Strömung selbst für erfahrene Schwimmer unberechenbar. Mit einem Fernglas sucht der 24 Jahre alte Hamburger den Strand ab. Was er sieht, sind nichts als leere Strandkörbe, vom Regen durchnässt. Susanne Scheel von der Strandkorbvermietung Scheel konstatiert: "Keine Einnahme heute." An guten Tagen zahlt der Gast für einen Korb neun Euro. Doch das Wetter vermiest das Geschäft. Heruntergelassene Jalousien wohin das Auge blickt. Die Reetdachkate "Störteburger" an der Promenade: geschlossen. Rudis Dünenimbiss: geschlossen. Minigolfanlage: geschlossen.

Der Strand: menschenleer. Die Gäste haben sich zurückgezogen. Statt im warmen Sand sitzen sie eng gedrängt unter der ausgefahrenen Markise des Central-Cafés Fitz am Timmendorfer Platz. 14 Heizpilze hat Stefanie Fitz aufgestellt, dazwischen leuchten glutrot mehrere Dutzend Deckenstrahler auf die 170 Plätze herab. "Die Gäste wärmen sich bei uns auf mit einem Glas Grog oder Glühwein mit Schuss", sagt Fitz, die dem schlechten Wetter durchaus Gutes abgewinnen kann. "Dann ist bei uns einfach mehr los. Auch wenn die Gäste schlechter drauf sind."

Von Wilma und Günther Westphalen, beide 89 Jahre alt, kann man das nicht behaupten. "Wir sind doch Hamburger", sagen sie. "Da spricht man nicht übers Wetter." Die beiden warten vor dem Hotel Seeschlösschen auf eine Regenpause. Das Fenster in ihrem Zimmer steht auf Kipp. Jeder, der vorbeigeht, kann den Wind pfeifen hören.