Christine W. wuchs als Junge auf, wechselte später ihr Geschlecht. Die 47-Jährige fühlt sich als Frau, schlägt aber zu wie ein Mann.

Hamburg. Es sollte alles besser werden. Hier in der Großstadt. Wo die Menschen vielleicht toleranter sind - und sie mit ihren Besonderheiten nicht allein sein würde. Christine W. hatte es sich so gewünscht, damals, als sie ihre beschauliche niedersächsische Heimatstadt verließ und nach Hamburg zog: Ein neues Leben wollte sie, ein freieres, ohne aufzufallen, ohne anzuecken, ohne angestarrt zu werden. Ein ganz normales Leben eben.

Doch in dem Leben von Christine W. ist nichts normal. Das war es noch nie. Mit dem Körper eines Jungen kam sie zur Welt, wuchs zu einem Mann heran. Und hatte doch das Empfinden einer Frau. Sie entschloss sich zu medizinischen Maßnahmen, ihren ungeliebten Körper so weit wie möglich ihrem empfundenen Geschlecht anzugleichen. "Sie dachte, mit ihrer Umwandlung würde alles gut", sagt der Anwalt der 47-Jährigen vor dem Landgericht.

Doch wirklich gut wurde gar nichts. "Ich bin der Sündenbock der Nation", glaubt sie bis heute. Und setzt sich dagegen heftig zur Wehr. Dafür sprechen die vielen Körperverletzungen und Beleidigungen, die ihr in dem Verfahren angelastet werden. Dafür sprechen ihre wütenden Reaktionen, wenn sie glaubte, jemand nehme sie als Frau nicht ernst. Allein 16 Fälle sollen es in den vergangenen beiden Jahren gewesen sein, in denen sie Mitmenschen laut Anklage "ohne rechtfertigenden Grund" angegriffen, beleidigt und zum Teil auch mit Reizgas verletzt haben soll. Auch in den Jahren davor soll sie vielfach aggressiv geworden sein. Etliche Fälle wurden mittlerweile eingestellt oder sind verjährt.

Eine Frau wie Christine W. fällt auf. Irritiert viele Mitmenschen vielleicht sogar. 1,90 Meter ist sie groß, breite Schultern, doch unter ihrer Strickjacke zeichnen sich ihre Brüste ab. Ein kräftiges Kinn prägt ihr Gesicht, dessen eher markante Züge auch ihr sorgfältiges Make-up nicht wirklich weichzeichnen kann. Die blonden Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, zu ihrer Strickjacke trägt sie Jeans und flache Schuhe. Ganz leger. Ihr Versuch, eben nicht aufzufallen?

Doch wenn sie unterwegs war, wenn es zu ihren Attacken kam, sei sie eher "aufgebrezelt" gewesen, erzählt die Angeklagte und streicht sich kokett eine Haarsträhne aus der Stirn. Aufrecht sitzt sie da, die Beine angewinkelt, die Hände außer für einige sparsame Gesten auf dem Tisch vor ihr geradezu sittsam gefaltet. Jene Hände, die so kräftig zuhauen können. Und doch hat Christine W. für jede ihrer Schläge und Beleidigungen eine Erklärung, die ihr nur zu plausibel zu sein scheint. Sie sei absichtlich angerempelt worden, meint sie.

"Und es gab so ein paar Sprüche wegen meiner Geschlechtsidentität", formuliert die 47-Jährige. "Die komische Frau da", soll ein Jugendlicher gehöhnt haben, dem Christine W. schließlich Reizgas ins Gesicht sprühte. "Man weiß ja gar nicht, ob du ein Junge oder ein Mädchen bist", habe sie etwa eine junge Frau provoziert. Da sei sie ausgerastet und habe Schimpfwörter losgelassen. Und die Schläge habe sie in den meisten Fällen aus Wut verteilt oder im Affekt. So wie bei dem Radfahrer, der sie im Vorbeifahren touchiert habe. Da sei ein Streit eskaliert, sie habe ihm Reizgas ins Gesicht gesprüht. "Das hätte ich mir aber auch sparen können", gibt sie sich heute einsichtig.

Es falle natürlich auf, die Beleidigungen und Körperverletzungen, meint der Vorsitzende Richter. Sie habe seinerzeit einen Antrag auf Namens- und Personenstandsänderung gestellt, erklärt die Angeklagte. "Ich habe gedacht, dass ich da in Hamburg besser aufgehoben bin, dass ich hier nicht mit meinen Problemen allein bin." Sie habe überall Hilfe gesucht, sei "von Pontius zu Pilatus gelaufen. Ich musste aber immer wieder verbale Attacken und Angriffe erleben", sagt Christine W. Sie reagiere dann eben darauf, "aufgrund meiner Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit", erklärt sie. Jetzt ist es mit ihrer Fassung vorbei. Die 47-Jährige beginnt zu schluchzen, schlägt die Hände vors Gesicht.

"Man könnte doch auch sagen: Die Leute sind doof, die verstehen das nicht", versucht der Kammervorsitzende zu vermitteln. "Es ist die Frage, ob Sie sich nicht mal an die eigene Nase fassen und selber ausweichen können." Doch für eine solche Gelassenheit sei sie nicht "taff genug", entgegnet Christine W. "Mir kommt das immer so vor, als wenn ich die ganzen Idioten an der Backe habe." Sie sei eben der "Sündenbock"."Ich bin in einer Sackgasse, aber ich will da raus." Sie müsse "Abstand gewinnen, nicht gleich zuhauen", hat die Angeklagte erkannt. In der Psychiatrie, in der sie seit April vorläufig untergebracht ist, bekomme sie Tabletten, "die helfen mir. Ich werde in Zukunft anders reagieren."

Doch das Gericht, beraten von einem psychiatrischen Sachverständigen, muss zunächst überzeugt werden, dass sie das kann. Im Prozess geht es um die Frage, ob Christine W. auf unbestimmte Zeit in die Psychiatrie eingewiesen wird. Ob sie eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Sie müsse ihre Reaktionen in den Griff bekommen, redet ihr der Vorsitzende ins Gewissen. "Sonst werden Sie Ihres Lebens nicht mehr froh."