Einen Monat ohne Handy und Internet: Wie übersteht man das? Der Journalist Christoph Koch hat es probiert und dabei unter anderem die gute alte Postkarte wiederentdeckt. Heute erscheinen seine Abstinenz-Erlebnisse als Buch.

Jeder kennt es - der Zahnarzt, der am PC einen Zahnstatus ausfüllt; die Anwältin, die unter caselaw.de eine BGH-Entscheidung liest; Schüler bei einer Hausarbeit und Journalisten bei einem Artikel: Irgendwann kommt das unwiderstehliche Bedürfnis, eine Runde Minesweeper zu spielen. Oder mal schnell bei testberichte.de nach der neuen Leica S2 zu gucken; oder ob Gesa endlich ihre Geburtstagsfotos bei Facebook eingestellt hat. Das Internet, die große Ablenkungsmaschine.

Für Christoph Koch gehören diese Zerstreuungen, ebenso wie SMS oder Apps, zum "Grundrauschen" unseres digitalisierten Alltags. Was ist eigentlich, wenn dieses Grundrauschen fehlt? Könnte man in einem analogen, traditionellen Alltag überhaupt überleben? Koch, freier Journalist in Berlin, hat es getestet und erzählt davon in seinem heute erscheinenden neuen Buch "Ich bin dann mal offline".

Schuld an diesem Selbstversuch war ein Umzug. Koch hatte danach ein paar Tage keinen Internetzugang, "und da bin ich extra losgegangen und habe mir einen teuren UMTS-Stick gekauft, zwei Jahre Vertrag, 600 Euro". Auf dem Heimweg fand er sich selbst eigenartig. 600 Euro, nur um ein bisschen eher wieder ins Netz zu kommen? Freunde erzählten ihm von ähnlichen Entzugserscheinungen. So entstand die Idee zu seinem Selbstversuch: einen Monat freiwillig offline und ohne Handy zu leben. Nur mit Festnetztelefon und Briefpapier.

"In der ersten Woche fühlte ich mich überraschend einsam"

"Die erste Woche war die schlimmste. Die ersten Tage hatte ich wirklich Kopfschmerzen. Ich wusste erst mal gar nicht, wohin mit mir, wie so ein Raucher, dem plötzlich vertraute Rituale fehlen", erzählt Koch. Morgens nach dem Aufstehen den PC anwerfen, ins Bad, Kaffee aufsetzen und dann erst mal E-Mails checken - Schluss damit. Freunde warten auf Facebook - ungesehen. Eine Bekannte simst - vergeblich. "Ich fühlte mich überraschend einsam", sagt Koch. Erst ab der zweiten Woche ging es besser: "Ich hab nicht mehr ständig an meine Hosentasche gefasst und nach dem Handy gesucht."

Mit wachsendem Abstand wurde Koch klar, wie Internet und Mobiltelefon den Tag gestalten. Wer sein E-Mail-Programm erst mal öffnet, ist oft für Stunden mit Kleinigkeiten beschäftigt. Man hängt in einer Beantwortungsschlaufe und denkt: Ich komm zu nix. "Ohne E-Mails konnte ich mir morgens in Ruhe überlegen: Was will ich oder muss ich heute tun? Ich konnte viel besser Prioritäten setzen und durchhalten, mich auf eine Sache konzentrieren", sagt Koch.

Warum sogar in der Liebe ohne E-Mails manches schwieriger ist

Auf der anderen Seite wurde vieles komplizierter und zeitaufwendiger. Statt Adressen und Telefonnummern in Sekunden zu googeln, musste er sie jetzt bei der Auskunft erfragen. Recherchen gestalteten sich mühsam. Beispiel: Die Entfernung Berlin-Düsseldorf hätte er im Netz schnell per Routenplaner ermittelt, jetzt mussten der alte Diercke-Weltatlas aus Schulzeiten und ein Zentimetermaß ran. Mit einem Wollfaden legte Koch die Fahrstrecke nach.

"Manchmal fragt man sich, wie man noch in den 90er-Jahren überhaupt gearbeitet hat", sagt Koch. Ohne Wikipedia oder Google Maps. Damals gab es in vielen Firmen und Verlagen noch Archivare. Und Nachschlagewerke.

Aber wie die Beach Boys 1970 oder die Beastie Boys ab 1981 klangen, erfährt man nicht aus Lexika, sondern auf YouTube oder MySpace. "Manchmal empfehlen Freunde einen Artikel in der 'New York Times', den man selber nicht gefunden hätte", sagt Koch. "Der Strom aus verschiedenen Informationsquellen hat mir gefehlt. Andererseits habe ich es genossen, Zeitungen und Magazine zu lesen und mich von Themen darin überraschen zu lassen."

Koch ist Jahrgang 1974. Ein Großteil dieser Generation Internet organisiert berufliche und private Kontakte mit Hilfe von Communities des Web 2.0. Fast alle realen Treffen haben eine virtuelle Vorbereitung. Es klingt banal, ist aber dramatisch: Wer sich ausklinkt, fühlt sich zurückgelassen. Der Bildschirm schwarz, das Handy schweigt, die Karawane draußen zieht weiter.

"Selbst mit Kollegen und Freunden, die im Umkreis von einem Kilometer wohnen, verabrede ich mich per Handy, man lädt sich per Mail zum Grillen oder zur Geburtstagsparty ein oder simst, ob jemand in zwei Stunden mit zum Schwimmen kommt", sagt Koch. "Und wenn ich mich da ausklinke, wenn ich mich nicht bei jedem mit Handschlag verabschiede und ihm meine Festnetznummer eintätowiere, dann stehen die auch nicht plötzlich vor meiner Tür und klingeln. Überraschungsbesuche sind ja inzwischen verpönt."

Also muss man selber aktiv werden und sehr viel verbindlichere Verabredungen treffen, lernte Koch. Er war plötzlich immer eine Viertelstunde zu früh am Ort - denn er konnte ja nicht von unterwegs simsen: "S-Bahn hat Verspätung".

Sogar in der Liebe sind Mails und SMS zu Ordnungsfaktoren geworden. Bei der Beziehungsanbahnung sind sie sehr hilfreich, so Koch: Man kann Interesse andeuten, ohne sich mit Herzklopfen schon einem Telefonat zu stellen. Man kann den anderen aber auch länger hinhalten - und sich selbst idealisieren. Da war die gute alte Fisch&Fahrradparty, bei der Singles auf der Suche nach neuen Kontakten zusammenkamen, ehrlicher.

Kochs Freundin, mit der er in Berlin zusammenwohnt, wusste natürlich von seinem Selbstversuch. "Aber ausgerechnet in meiner Versuchszeit hat sie in Hamburg gearbeitet", sagt Koch. "Da wäre eine SMS ab und zu vor dem Einschlafen oder nach dem Aufwachen schön gewesen. Oder eine Mail zwischendurch. Ich habe mir dann geholfen und ihr jeden Tag eine Postkarte geschickt." Darüber habe sie sich viel mehr gefreut als über SMS. Die alten analogen Methoden, sagt Koch, "bekommen einen viel größeren Wert".

Anstatt Facebook-"Freundschaften" quasi nebenher laufen zu lassen, differenziert er Freunde jetzt klarer. Man entwickelt Rituale, zum Beispiel jeden Sonntagabend ein Telefonat mit dem besten Freund. Wenn einer Freundschaft über längere Zeit die reale Grundlage fehlt, stirbt sie langsam ab. Sie wird "überschrieben" von aktuellen Kontakten, die auf uns einstürmen - vor allem per Internet.

Das bestätigte dem Probanden Koch auch der britische Anthropologe Robin Dunbar, der sich mit der evolutionären Entwicklung der menschlichen Kommunikation beschäftigt hat: Die hat sich grundlegend gewandelt. Durch die neuen Medien und digitalen Angebote wird unsere Wahrnehmung wie von selbst bespielt, auch ohne aktives Zutun. Der Preis dafür ist eine neue Art von Abhängigkeit - ein Thema, das momentan Hochkonjunktur hat. Die "Wirtschaftswoche" plädiert für das "temporäre Abschalten": Auf Dauer minderten zu viel Mails, Smartphone und ständige Erreichbarkeit die Leistungsfähigkeit. Der "Spiegel" entdeckt die Muße wieder. "Burn-out" ist ein Dauerthema nicht nur bei Kommunikationsprofessorin Miriam Meckel. Das Buch "Payback" von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher prangert die "Ich-Erschöpfung" als Folge digitaler Informationsflut an. Der Hamburger Trendforscher Peter Wippermann indes hält die Diskussion für "sehr deutsch. Sie tut so, als gäbe es die Option der Unerreichbarkeit noch", sagt er. "Aber das ist eine gedankliche Rolle rückwärts und kontraproduktiv." Außerhalb Deutschlands gehe die Debatte in eine andere Richtung: Wie lassen sich die vielen Informationen besser und sinnvoller filtern?

Hilfen sind etwa intelligente Filterprogramme. Mit "location based services" kann man sich gezielt positionsabhängige Daten aufs Handy holen (ist der Stau jetzt auf der Amsinckstraße oder schon auf dem Heidenkampsweg?). Oder "social search": ein Programm, das Mails nach dem Bekanntschaftsgrad differenziert und Freunden Priorität einräumt. Der clevere Umgang mit dem digitalen Multitasking ist auch Thema des 15. Deutschen Trendtags im September in Hamburg.

"Keiner will sich wirklich ausklinken, aber jeder möchte individuell seinen Tag gestalten und in sozialen Beziehungen leben", sagt Wippermann. "Das heißt: den digitalen Flow erhalten und zugleich besser kontrollieren. Das sind Kulturpraktiken, die wir entwickeln müssen." Stell dir vor, es ist Internet und keiner geht rein - das sei keine Option: "Wir können uns nicht in so eine Retro-Verweigerung flüchten."

Wie kommt man heraus aus der Selbstversklavung?

Das will Christoph Koch auch gar nicht. Er hat mit zahlreichen Experten gesprochen, die sich mit den Begleiterscheinungen der digitalen Welt befassen. Etwa die Kölner Psychologin Christiane Eichenberg, die über soziale Beziehungen und Sex im Netz forscht. Oder der "akustische Umweltschützer" Gordon Hempton, der völlig zurückgezogen an einem der stillsten Orte der Welt lebt, im Olympic National Park im Bundesstaat Washington, und der vor der aufdringlichen Geräuschkulisse unserer Allzeit-Erreichbarkeit warnt. Wahre Stille, sagt Hempton, kennen die meisten Menschen überhaupt nicht.

Christoph Koch zeigt aber auch: Die ständige Erreichbarkeit, die "an Selbstversklavung grenzt", kann man durchbrechen. Er gibt Tipps für Abstinenz und gute Organisation. Und wie kommt man raus aus der Sklaverei? "In dem man mit verschiedenen Menschen verschiedene Verabredungen trifft", sagt Koch. "Für Partner/in und Freunde ist man immer erreichbar. Kollegen und Chef müssen akzeptieren, dass das Wochenende freie Zeit ist. Was ich auch sehr charmant finde, ist die Idee des Internet-Sabbats: einen festen Tag in der Woche, an dem man sagt: Ich schalte das Handy aus und bin offline. Punkt."

Christoph Koch: Ich bin dann mal offline. Blanvalet, 266 S., 12,95 Euro.