Charlie Brown, eine der erfolgreichsten Comicfiguren, wird 60 - und bleibt doch zeitlos, weil sich in ihm auch Erwachsene wiederfinden.

Hamburg. Es war einmal ein Knirps, der wollte in eine ganz bestimmte Kinovorstellung, weil man den ersten 100 Kindern eine Süßigkeit versprochen hatte. Er war Knirps Nummer 101. Knapp verpasst, Chance vorbei. Das Leben ist kein Streichelzoo, diese Lektion sollte er noch schmerzhaft oft lernen.

Dieser Pechvogel hieß Charles Monroe Schulz. Am 26. November 1922 in Minneapolis geboren, Spitzname "Sparky", Sohn eines verschlossenen, deutschstämmigen Friseurs und einer Norwegerin. Sparky Schulz war ein Einzelgänger, der keine Schulfreunde hatte und erst recht keine Schulfreundin. Er verschlang die harmlos albernen Comicstrips in den Tageszeitungen seines Vaters und zeichnete gern. Das konnte er, das gehörte nur ihm. Sein Biograf David Michaelis beschrieb das Jahrzehnte später mit einer Anspielung auf den Philosophen Descartes: "Er zeichnete, also war er."

Das Happy End dieser Geschichte: Als Erwachsenen liebte ihn die ganze Welt, denn der kleine, schüchterne Charles stand sich selbst Modell - für sein Alter Ego Charlie Brown, einen der größten einsamen Helden in der US-Kultur des 20. Jahrhunderts, der in Kürze seinen 60. Geburtstag feiern kann. In dessen Heimat, dem Land der angeblich so unbegrenzten Möglichkeiten, endeten die Vier-Bild-Odysseen von Charlie und seinen Weggefährten fast immer in der schlechtesten aller möglichen Welten, mit einer Punchline, die sehr oft ein Schlag unter die Gürtellinie war.

Schon mit der Premiere am 2. Oktober 1950 deutete Schulz an, in welche Abgründe die gemeinsame Reise gehen würde: Ein Junge und ein Mädchen sehen Charlie Brown fröhlich lächelnd vorbeigehen, und der Junge kommentiert diese bloße, nichts tuende Anwesenheit in der letzten Szene mit einem unvermittelten "Wie ich ihn hasse!". Autsch. Das "Seufz", Charlie Browns von ganz tief unten kommendes Markenzeichen, tauchte erst später in Schulz' Zeichnungen auf. Doch das Fundament für den Welterfolg war gelegt. Der ewige Zweite - benannt nach einem Kollegen in der Kunstschule - war für seinen geistigen Vater deswegen aber kein ewiger Verlierer. Dieses Etikett missfiel Schulz, weil der leidensfähige Stoiker nie die Hoffnung verlor, obwohl seinem Schöpfer die Welt "ein gewaltiges Rätsel" war. Beide, jeder auf seine Weise, konnten einfach nicht anders. Immer wieder setzte Charlie Brown darauf, dass Lucy, das perfekte Monster, den verdammten Football diesmal nicht mit einem machiavellischen Grinsen im letzten Moment wegziehen würde. Dass diesmal sein Drachen wirklich fliegen und nicht schon wieder im nächsten Baum landen würde.

Den Namen Peanuts hat ihr geistiger Vater immer gehasst

"Die meisten von uns haben mehr Erfahrungen mit dem Verlieren als mit dem Gewinnen", erklärte Schulz seine bittersüße Lebensphilosophie. "Es ist großartig zu gewinnen, aber es ist nicht lustig", fand er, weil er wusste, wovon er sprach. Wohlwollende Hinweise, er solle sich wegen seiner Melancholie einem Psychologen anvertrauen, lehnte er ab, weil er Angst hatte, sich damit auch von seinem Genius kurieren zu lassen.

Im Laufe seiner Karriere hat Schulz 17 897 Strips mit etwa 80 000 Einzelbildern gezeichnet. Das war sein Leben, seine selbst gewählte Fron und Freiheit zugleich, in der er nie anonyme Vollzugsgehilfen duldete. Nur er allein schuf bis zum buchstäblichen i-Tüpfelchen diesen Kosmos voller Moralisten, der ihn im Laufe der Jahrzehnte zu einem steinreichen Mann machte.

Für den Hamburger Comicexperten Andreas C. Knigge ist das Erfolgsgeheimnis der kleinen Racker schnell erklärt. Es liegt an der "universellen Schlichtheit im Zeichenstil und der komplexen Einfachheit der Figurenbeziehungen", findet er. "Sie stehen ja mehr für bestimmte Situationen. Es sind sehr menschliche Situationen, die Schulz erzählt. Das ist aber keine Vermarktungsidee. Er erzählt eigentlich immer von sich." Knigge ist Herausgeber des Best-of-Peanuts-Bands, der gerade anlässlich des 60. Jahrestags im Hamburger Carlsen Verlag erschienen ist. Ein Sammlerstück, obwohl es kaum "Peanuts"-Sammler im klassischen Sinne gibt, "weil die Peanuts immer da waren. Es gibt Bewunderer. Das liegt auch an der kurzen Form. Die setzt kurz etwas in einem in Bewegung, aber dann geht das Leben weiter. Diese Geschichten sind nicht so mythisch verankert wie die von Donald Duck. Seine Hefte konnte man immer sammeln, das war bei den Peanuts so nie der Fall." Und da Charles Schulz eine Fortsetzung nach seinem Tod schon zu Lebzeiten untersagt hatte, gibt es auch keine Nachfolger. Erlaubt werden seitdem nur Nachdrucke von Strips ab dem Jahrgang 1974. Bezeichnenderweise hasste Schulz den Bestseller-Namen "Peanuts"; dieser Titel für die Comicreihe war die Idee seines Redakteurs, der gedacht hatte, diese neuen Comics seien ja nur amüsanter Kinderkram, fürs schnelle und unverbindliche Lächeln zwischendurch. So kann man sich irren.

Nachdem Schulz zunächst noch nicht so recht wusste, wohin mit sich, seinen Geschöpfen und seinen Frustrationen, reiften Charlie Brown & Co. zu einer gut gemischten Horde mit unerschütterlichen Melancholikern, Romantikern, Sadisten, Zynikern, Träumern und anderen liebenswürdigen Spinnern. Für jeden Leser war ein Charakter dabei, in dem er seine Alltagsängste und -wünsche bestätigt finden konnte. Dazu kamen Formulierungen, die in den amerikanischen Sprachschatz eingingen. Charlies Stoßseufzer "Good grief!" beispielsweise, das man nicht nur mit "Gute Güte!" übersetzen, sondern auch als positive Trauerarbeit verstehen könnte, oder Lucys Erkenntnis "Glück ist ein kuscheliges Hündchen". Ihr unerreichbarer Geliebter Schröder, der lieber Hand an die Tasten seines Spielzeugklaviers legte, hatte auf die Frage nach dem Sinn des Lebens eine noch kürzere Antwort: "Beethoven!"

Charlie Brown, wie Schulz Sohn eines Friseurs, hat ein Allerwelts-Mondgesicht, das - Punkt, Punkt, Komma, Strich - nur aus dem Nötigsten besteht und deswegen auf wundersame Weise alles ausdrücken kann. Musils Mann ohne Eigenschaften, nur eben im ewigen Grundschulalter gefangen, mit einem zickzack gestreiften Pullover und keinerlei erkennbarer Frisur gestraft. Charlie Jedermann war das Spiegelbild für alle, er erlitt, was jeder kannte, aber so nie am eigenen Leib erleben wollte. Denn es ging immer um die Stellen, an denen es wahrhaftig wehtut. Ganz besonders bei jenen Vier-Augen-Gesprächen, die auf dem Klagemauer-Sims stattfanden und mit einem frustrierten Blick ins Irgendwie endeten. Da waren Männer unter sich, auch wenn sie kurze Hosen trugen und an den Weihnachtsmann glauben wollten. Zu viele Worte störten, Schulz verlieh seinen Dialogen immer wieder die asketische Eleganz eines Haiku-Gedichts.

Die Peanuts durften zwar nie erwachsen werden. Aber warum auch, sie hatten ja bereits ausgewachsene Macken und Marotten und genossen weniges so sehr, wie sich gegenseitig fertigzumachen. In einem Vorwort für die Gesamtausgabe, die seit 2006 bei Carlsen erscheint (bis 2018 sind 25 Bände geplant), analysierte der Satiriker Robert Gernhardt: "Diese Kinderwelt ist nicht heil, und sie wird mit jedem Neuzugang heilloser." Linus' Lebensretter heißt in der deutschen Übersetzung verharmlosend Schmusedecke, im Original aber viel existenzieller und zutreffender "security blanket".

Charlie Brown hat nicht nur immer Pech, er hatte irgendwann auch einen Hund, was in diesem speziellen Fall allerdings oft Hand in Hand ging. Bis 1957 bewegte sich dieser Hund auf allen Vieren durch die Bilder, danach war Snoopy mitsamt seinem aufrechten Gang ein vollwertiges Mitglied der Comicgroßfamilie. Einer Familie, in der es aber nie sichtbare Eltern gab, die Werte vermittelten oder auch nur trösteten, wenn der große Kürbis zu Halloween schon wieder nicht vor Linus' sehnsuchtsvollen Augen auftauchte oder wenn es Nacht war oder Charlie Brown kinderseelenallein Angstschübe in seinem übergroßen Bett durchlitt. Schopenhauer hätte an solchen Szenen seine Freude gehabt, Freud sowieso.

In den Minidramen mit Lucy verarbeitete Schulz Szenen seiner Ehe

Überhaupt, die Sache mit dem Nachdenken über das Leben und den ganzen Rest. Philosophisch betrachtet ist Snoopy - wenn er nicht gerade als englisches Flieger-Ass den verhassten Roten Baron jagt oder als Joe Cool unterwegs ist - für Zeichendeuter das beaglegewordene Höhlengleichnis von Platon. Ein unerziehbares Hündchen auf der Suche nach der Idee des Guten. Aber mit dem kleinen Unterschied, dass Snoopy mit seinem neuen Wissen gar nicht zurück in die Hundehütten-Höhle will, sondern lieber auf ihrem Dachsims liegt, um die Aussicht zu genießen, aufs Fressen zu warten oder den stummen Piepmatz Woodstock zu beschimpfen.

Zwischen den wenigen Textzeilen kann man in Schulz' Comics so viel über deren Schöpfer lesen wie in einem offenen Buch. Sie sind voller biografischer Anspielungen, was er auch nie verheimlichte. "Was meine Figuren sagen und tun, das bin ich." Dass Schröder zunächst Brahms und nicht Beethoven auf seinem Kinderklavier spielte, entsprach Schulz' Musikgeschmack; er wechselte den Komponisten nur, weil der Name Brahms nicht lustig klang. Auch für das kleine rothaarige Mädchen, in das Charlie verschossen war, gab es ein Vorbild in Schulz' Leben. Schulz' erste Frau Joyce war abschreckendes Beispiel für die Spielplatz-Terroristin Lucy. Die Szenen seiner Ehe verarbeitete Schulz jahrelang in den Minidramen mit Lucy. Im August 1972 warf Charlie die Kratzbürste in einer "Peanuts"-Folge für alle Welt sichtbar aus dem Baseballteam. Drei Monate später reichte Schulz' Frau ihre Scheidungsklage ein.

Eine Paketrolle aus den USA irritierte einen Frankfurter Zollbeamten

Doch Schulz konnte auch anders. Mitte der 90er-Jahre schickte Andreas Knigge ihm ein Fax: Ob er eine Originalzeichnung von ihm kaufen könne? Drei Tage später rief das Frankfurter Zollpostamt an. Es sei eine Paketrolle aus den USA angekommen, ob man die aufmachen könne. Knigge hatte keinen Schimmer, was es sein könnte. Der Zöllner war offenbar auch Peanuts-Fan, denn nach dem Auspacken fragte er, tief beeindruckt: "Wer sind Sie denn, dass Ihnen Charles Schulz einen Comicstrip mit Widmung schickt ...?"

Einen Tag nach Schulz' Tod erschien sein letzter Strip. Es war der 13. Februar 2000, ein Tag vor Valentin, an dem man bekanntlich der Liebe seines Lebens kleine Geschenke machen soll. Diesen Termin hatte der an Krebs erkrankte Schulz bei seinem täglichen Geschenk an die Leser knapp verpasst. Ein Timing, das zum kleinen Charlie ebenso passte wie zum großen Charles.

Auf die Frage, ob Schulz wohl glücklich gewesen war, antwortet Knigge: "Ich glaube, er war wie Charlie Brown. Ein Mensch, der sich damit arrangiert hatte, ein trauriger Mensch zu sein. Und damit unterm Strich glücklich." ...