Der Triumphzug der DFB-Elf gilt als “Jogi-Wunder“. Dahinter steckt ein einfaches Prinzip: Löw tut, was er für richtig hält - leise und unbeirrbar.

Wäre es sein Triumph gewesen, dann hätte Diego Maradona wahrscheinlich, nein, ganz sicher, einen Bauchtanz vorgeführt, sich an seinen Glücksgefühlen ergötzt und vermutlich als Zugabe mit ein paar obszönen Worten auch noch seine Zweifler bepöbelt.

Joachim Löw ist anders. Eine Orgie der Emotionen nach dem 4:0 gegen Argentinien? Fehlanzeige. Gut, er gestattet sich das Lob, seine Spieler hätten "Champions-Niveau" gezeigt. Ansonsten spricht der Mann, der in diesen Wochen das wohl wichtigste Amt in Deutschland bekleidet, fast nüchtern davon, dass es jetzt wichtig sei, "emotional nicht zu überdrehen". Was zumindest in der Heimat ein schwieriges Unterfangen ist. Schließlich hat der Bundestrainer ein ganzes Land in einen Liebesrausch versetzt.

Mag sein, dass ihn die Anstrengungen drei, vier Kilo an Gewicht gekostet haben und sein Kaffee- und Zigarettenkonsum gestiegen sind. Aber im Grunde sieht Löw immer noch so aus wie vor sieben Wochen, als er seine scheinbar aussichtslose Mission übernommen hat. Deutschland Weltmeister? Dieses Jahr, in Südafrika? Selten so gelacht. Jetzt rätselt die Welt über das "Jogi-Wunder". Wobei es nicht allein um die Frage geht, warum Deutschland mit einer an Jugend reichen und Erfahrung armen Mannschaft zum dritten Mal in Folge zu den vier besten Nationen der Welt gehört. Das größte Verdienst von Löw ist es, seinem Land jene Schönheit des Spiels zurückgeschenkt zu haben, die lange für immer verschollen schien.

Galt bislang die Europameister-Elf von 1972 um ihren Maestro Günter Netzer als das Kunstvollste, was deutsche Fußballer je zelebrierten, so ist das Löw-Team gerade dabei, sich diesen inoffiziellen, aber wertvollen Titel zu erobern. Und zwar mit Ball-Artisten, die auf der (Bundesliga-)Bühne keinesfalls immer mit glanzvollen Auftritten für ihre Nominierung geworben hatten.

Arne Friedrich? Ein Absteiger aus Berlin. Lukas Podolski? Ein Talent, ja, aber in München gnadenlos gescheitert und nach seiner Flucht in den Kölner Wohlfühlhort weit unter den Erwartungen geblieben. Miroslav Klose? Bei Bayern München meistens nur ein Stürmer von der traurigen Gestalt und auf die Ersatzbank verbannt, auf dem besten Weg zum Auslaufmodell.

Mehr als einmal wurde Löw in Versuchung geführt, dem heftig fordernden Urteil der Stammtische und Leit-Medien zu folgen und beispielsweise den lange Zeit brillant aufspielenden Kevin Kuranyi aufzubieten. Oder aber der Jugendbande mit Torsten Frings die erforderliche Portion Routine zu verabreichen.

Aber Löw blieb stur bei seinem Unternehmensplan, den er mit seinen engsten Mitarbeitern, den Co-Trainern Hans-Dieter Flick und Andreas Köpke sowie Chefscout Urs Siegenthaler, nach vielen Analysen entwickelt hatte. Seine entscheidende Erkenntnis: Nur verteidigen, das einstige Qualitätsmerkmal deutscher Mannschaften, reicht nicht. Nur die Teams würden eine Chance bei dem Turnier haben, die neben einer starken Physis auch schnellen, offensiv ausgerichteten Kombinationsfußball zeigen. Danach galt es den Kader mit den entsprechenden Spezialisten zu bestücken. Und zwar unabhängig von ihrer Tagesform, sondern im Vertrauen darauf, dass Löw diese "High-Potentials" im Laufe der Vorbereitung auf internationales Niveau trimmen könnte. "Ich bin ein Ästhetik-Trainer, der guten Fußball sehen will und über Kampf und Einsatz eigentlich nur am Rande spricht", beschrieb Löw in diesen Tagen seine eigenen hohen Ansprüche. Deutscher Fußball ist doch mehr als ein 1:0? Ein unfassbarer Gedanke!

Dass ausgerechnet Klose mit nun schon vier Toren auf dem Weg ist, sich unsterblich in den WM-Annalen zu verewigen, könnte vielleicht als Löws größter Sieg bezeichnet werden, schließlich verkörpert Klose am besten, was Löw mit dem Glauben in die Stärke seiner Auserwählten erreichen konnte. Sollte im Finale am 11. Juli der Sieger tatsächlich Deutschland heißen, hätte wohl kaum jemals ein Bundestrainer so großen Anteil an einem Titel wie Löw.

Wer aber von der Leichtigkeit und Kreativität eines Özil oder Müller auf eine lange Leine in der Führung schließen würde, läge meilenweit daneben. Wie eine Nationalmannschafts-Firma hat Löw Spieler und Betreuer bis ins Detail aufgebaut und strukturiert. Zwar mit einer eher flachen Hierarchie innerhalb der Mannschaft, aber mit ihm als dem Entscheidungsterminator an der Spitze. Mit einem Menschen, der mit seinen stets wohltemperierten Verlautbarungen nach außen zuweilen wie ein spröder Sachwalter wirkt, weil ihm der Glamourfaktor eines Jürgen Klinsmann fehlt. Aber wer den 50-Jährigen während eines Trainings erlebt und die Schärfe seiner Anweisungen gehört hat, dem erschließt sich der wahre Kern Löws: Der nette gebürtige Badener mag zwar abseits des Grüns höfliche Umgangsformen pflegen, was ihn aber nicht daran hindert, als sanfter Diktator keinen Widerspruch zu dulden, was Aufgaben und Ziele betrifft. Seine Autorität strahlt nach innen.

Vor den WM-Spielen wählt Löw stets ein passendes taktisches Korsett aus, das die Spieler strikt zu befolgen haben. Als sich gegen Argentinien Jerome Boateng bereits einige Minuten angeschlagen über den Platz schleppte, nahm Löw sich trotzdem die Zeit, dem bereitstehenden Marcell Jansen an der Seitenlinie auf einem Papier in seiner Strategiemappe in aller Ruhe detaillierte Regieanweisungen mitzugeben: "Bei uns kann niemand einfach so rumlaufen." Wenn die Spieler auf dem Platz ihrem Gegner ins Auge schauen, kennen sie nicht nur die sportlichen Stärken oder Schwächen, sondern dank der Abteilung Scouting, also Gegnerspionage, auch die Besonderheiten der jeweiligen Nationalität, Anfälligkeiten in der Mentalität.

Akribisches Arbeiten statt Zufallsprinzip - kein Wunder, dass DFB-Manager Oliver Bierhoff die "Disziplin" als herausragendes Merkmal für den Sieg gegen Argentinien nannte: "Die Spieler haben die Vorgaben von Joachim Löw verinnerlicht und zu 100 Prozent umgesetzt."

Auch in den vorherigen Spielen zeigte sich, wie Löw geschickt den vordergründigen Nachteil zu seinem Vorteil umkehren konnte, eine in weiten Teilen unerfahrene Mannschaft führen zu müssen: Die von ihren Vereinen viel besser ausgebildeten jungen Musterschüler lernen nicht nur schneller, sie sind auch wissbegierig und folgen ihrem Lehrer bedingungsloser als ein Profi mit zehnjähriger Berufserfahrung. Als HSV-Verteidiger Jerome Boateng, der jetzt zu Manchester City wechselt, im Mai zur Nationalmannschaft stieß, belegte ihn Löw sofort mit einem absoluten Grätschenverbot. Seitdem war Boateng nie mehr am Boden zu sehen.

Von Anfang an war Löws Plan zu erkennen, mit den Spielern in Etappen zu denken: Mit der Erfahrung von zwei Turnieren (WM 2006, EM 2008) setzte er darauf, dass sich die durch Verletzungen wie der von Kapitän Michael Ballack dezimierte Mannschaft nach der Vorbereitung auf Sizilien und in Südtirol während der Gruppenphase einspielen kann und angesichts des inflationär verfügbaren Potenzials die postulierte Unternehmensphilosophie im Eiltempo verinnerlicht.

Unter Mithilfe von DFB-Psychologe Hans-Dieter Hermann wurden auch mental schwierige Spiele wie jenes gegen Ghana (1:0) positiv in den Lernprozess integriert. Mit dem 4:1 gegen England kam es vor einer Woche zu der ersten Leistungsexplosion. Würde man dieses Spiel als Geburtsstunde einer großen Mannschaft bezeichnen, dann wäre die Demonstration der Stärke gegen Argentinien schon das Erreichen ihrer Volljährigkeit gewesen.

Elementar für das Bestehen des Schnellkursus "Titelreif in 40 Tagen" waren die Arbeitsbedingungen für Löw. In Rahmen einer von Bierhoff perfekt zusammengestellten Organisation hat sich der Bundestrainer eine heile Welt geschaffen, die in dieser Form nur begrenzt auf die "normale" Fußballwelt übertragbar ist. Penibel achtet Löw darauf, dass die Spieler einander mit Respekt begegnen und die frustrierten Ersatzspieler nicht den Teamgeist torpedieren, was mit öffentlichen Äußerungen aber auch fast unmöglich ist, schließlich wandert jedes Zitat eines Interviews durch die äußerst achtsame Autorisierungsmaschinerie des Deutschen Fußballbundes um Mediendirektor Harald Stenger. Ohnedies nimmt die Erfolgswelle Spielern wie dem ehrgeizigen Bremer Tim Wiese selbstredend sämtliche Argumente.

"Power within", Kraft von innen, lautet einer der Schlachtrufe der Spieler vor den Partien. Doch Löw verlässt sich nicht allein auf die Eigenmotivation der Spieler. Mit gezielten Aktionen versucht er die Leidenschaft zu befeuern. Zu jedem Spiel stellen DFB-Mitarbeiter ein zwei- bis dreiminütiges Video zusammen mit besonders eindrucksvollen Szenen der eigenen Spiele und dem Jubel der Fans in der Heimat, unterlegt mit der Lieblingsmusik des Teams, mal von Bushido, mal von Shakira, das dann in der Kabine abgespielt wird. "Das gibt uns immer noch einmal einen positiven Kick", sagt HSV-Profi Marcell Jansen.

Ob Löws Spieler aber auch übermorgen im Halbfinale gegen Europameister Spanien wieder so magisch anmutende Auftritte abliefern wie gegen England und Argentinien, ist dennoch nicht sicher. Die Unberechenbarkeit des Tages, des Moments bleiben in diesem komplexen Spiel weiter der größte Faktor, auch wenn Löw mit aller Kraft versucht, den Code für das Erfolgsgeheimnis des Fußballs zu entschlüsseln. Einen Großteil hat er schon geknackt. Und sollte der Griff nach dem vierten WM-Titel tatsächlich gelingen, wäre ein kleines Tänzchen von Löw mit der deutschen Nation vor dem Brandenburger Tor bestimmt drin. Ganz sicher sogar.