Auf der Veddel leben 28,6 Prozent der Menschen von Hartz IV, in Nienstedten sind es 0,8 Prozent. Das Abendblatt gibt Einblicke in zwei Stadtteile.

Die Jacke ist zu dünn für die Jahreszeit. Ans Frieren hat sich das Mädchen gewöhnt. Es merkt den kalten Wind nicht. Und auch nicht den Hunger. In den Sommermonaten läuft das Kind fast immer ohne Schuhe. Und wenn Pastor Stenz der Kleinen und ihren Freundinnen von dem glasscherbenbeschmutzten Spielplatz ein Brot belegt, stopft sie, ehe er noch ein Sandwich fertig hat, alles einzeln in sich hinein. Einmal wollte Ulfert Stenz die Sechsjährige nachts um halb elf nach Hause bringen. Niemand war da, die Wohnungstür verschlossen. Die Haustür dagegen ist immer offen. Vor Jahren schon ist sie aufgebrochen worden. Im Keller des Hauses türmt sich der Müll. Und auch im Innenhof. Und im Vorgarten. Matratzen, Pressholzmöbel, Küchenabfälle. Nebenan in der Kirche riecht es nach Fischstäbchen, Kartoffelbrei und Erbsensuppe. Es wird Essen ausgegeben für die Bedürftigen.

Im Hamburger Hofladen in Nienstedten gibt es frische Erdbeeren, Körbe mit Gemüse, getrocknete Tomaten, alles fein und bio. Auch im Bistro und Feinkostgeschäft La Bottega del Sole kaufen die Kunden frisch. Wenn sie vom Tennis kommen am Vormittag. Oder abends von der Arbeit. Dann holen sie Tartufo-Pasta, Fleur de Geisha und Trüffelkäse, damit sie nicht noch selbst kochen müssen, weiß Stefanie Monesi, die jeden ihrer Kunden persönlich kennt. Da mache es auch nichts, wenn mal einer den Geldbeutel vergessen habe. "Dann bezahlt er halt am nächsten Tag."

Tanja Dagan hat das Wort TartufoPasta noch nie gehört. Sie kennt nur Penny, weil dieser der einzige Discounter im Stadtteil ist. Sie lebt auf der Veddel auf 47 Quadratmetern, zwei Zimmer, die sie sich mit ihrer Freundin und ihrem achtjährigen Neffen teilt. Die 41-Jährige bekommt Hartz IV. So wie 1385 weitere Bewohner in diesem 4,4 Quadratkilometer großen Stadtteil. Das sind 28,6 Prozent der dort lebenden Bevölkerung. Damit liegt Veddel hamburgweit an der Spitze. Das andere Ende dieser Statistik liegt 13,3 Kilometer Luftlinie entfernt - in Nienstedten. Dort sind 0,8 Prozent der Bevölkerung Leistungsempfänger nach SGB II. Das sind 55 Einwohner.

+++ Das Hamburg der Gegensätze +++

Eine Stadt, zwei Welten. Weiße Villen, exquisite Landhäuser mit Parkanlagen, Reetdachhäuser und edler Neubau auf der einen Seite. Straßenlange Backstein-Wohnblöcke mit roten Ziegelfassaden aus den 1920er-Jahren auf der anderen Seite. Nienstedten mit der Veddel zu vergleichen, das wäre, als würde man Äpfel mit Birnen vergleichen. Oder Sahnetorte mit Schwarzbrot. 7144 Einwohner leben in Nienstedten. 1354 von ihnen haben einen Migrationshintergrund. 1,5 Prozent macht der Anteil der Arbeitslosen unter den Erwerbstätigen zwischen 15 und 65 Jahren aus. Das Durchschnittseinkommen betrug im Jahr 2004 rund 150 008 Euro. Auf der Veddel leben 4847 Menschen. 70,1 Prozent haben einen Migrationshintergrund. 10,8 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter sind arbeitslos. Das Jahreseinkommen lag 2004 bei durchschnittlich 17 036 Euro.

Hans Hintscher hat sich zum Klönschnack in der Nienstedtener Straße verabredet. "Hitschi", sagen seine Freunde zu ihm. Sie sind alle um die 70. Sie haben ihr Leben lang gearbeitet. Jetzt genießen sie den Ruhestand. "Es gibt hier wahnsinnig viele alte Leute", sagt "Hitschi", der mal als Komparse gearbeitet hat. Deshalb sei der Stadtteil dabei zu sterben. Die letzte Kneipe habe Ende 2011 dichtgemacht. Und Kinder, die sehe man überhaupt nicht im Stadtteil. Stattdessen gepflegte Vorgärten, geputzte Fenster, zu Kugeln geschnittene Buchsbäume und üppige Rhododendren. Es gibt viele teure Autos in den Einfahrten und Klingelschilder aus poliertem Messing. Zu Weihnachten richten die Geschäftsleute einen Weihnachtsmarkt aus. Und zweimal im Jahr wird Kirmes gefeiert. "Dann", sagt Hans Hintscher, "dann sieht man auch mal Kinder auf der Straße."

Auf dem Fußballplatz im Zentrum der Veddel kicken ein paar Jungs. Nebenan auf dem Spielplatz toben die Kleinen. Kinder sind hier überall. 52,6 Prozent von ihnen leben von staatlicher Unterstützung. "Viele haben zu Hause nicht mal einen Stift zum Malen", sagt Pastor Sterz. Bis vor einem Jahr gab es für sie noch das Spielhaus Katenweide. Doch das Gebäude musste wegen Schimmelbefalls geschlossen werden. Seitdem wird händeringend nach einer Lösung gesucht. Also spielen die Kinder draußen. Selma Güldat-Yavuz steht auf dem Spielplatz neben der Schule Slomanstieg. Sie ist 33 Jahre alt, hat zwei Kinder. Selma sagt: "Ich bin hier zu Hause. Das ist wie eine große Familie." Ihr fünfjähriger Sohn Aytunc wird im kommenden Jahr eingeschult. Er soll in die Grundschule in der HafenCity gehen. Die Stadtteilschule Slomanstieg, die einzige Schule auf der Veddel, kommt für sie nicht infrage. "Weil die Mischung nicht stimmt." 84,6 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund. In Nienstedten gibt es zwei Grundschulen. Das Wort "Ausländerproblematik" existiert hier nicht. Es gibt eine Waldorfschule, sechs Kindergärten und drei Seniorenresidenzen.

In den Gärten stehen Trampoline und Klettergerüste. Und von der Elbschlossresidenz haben die Bewohner aus dem Restaurant einen fantastischen Blick aufs Wasser. Auf der Veddel, sagt Pastor Sterz, kommen die Alten kaum noch raus. "Viele leben allein, werden vom Sozialsystem versorgt und keiner merkt, wenn sie nicht zurechtkommen." Manchmal besucht er die Menschen zu Hause. "Die Gastgeber trinken Oettinger, Holsten Edel oder Klaren aus der Flasche", erzählt er. ",Früher', sagen sie, 'früher war alles besser.'" Francine Lammar kann das nicht bestätigen. Sie engagiert sich seit 14 Jahren im Verein Veddel aktiv und weiß, wie viel sich auf der Elbinsel getan hat. "Wir sind auf einem guten Weg", sagt sie. Und meint damit zum Beispiel die Stadtteilbücherei, die in einem Flügel der Schule untergebracht ist und die Klassenführungen und Bilderbuchkino organisiert, Leseübungen anbietet, "Gedichte für Wichte" für Eltern mit Kleinkindern veranstaltet und über 3000 Medien im Bestand hat. Darunter auch viele zweisprachige Bücher. Das größte Problem sei die Bildungsferne der Menschen hier, sagt Lammar. Und damit verbunden Jugendliche ohne Schulabschluss, die als "ausbildungsuntauglich" gelten. Davon gibt es viele auf der Veddel.

In Nienstedten ist das kein Thema. In der Statistik steht unter der Rubrik "Arbeitslose zwischen 15 und 25 Jahren" kein Eintrag. Die Zahl der Abiturienten ist hoch. Die Kinder hier wachsen mit Bilderbüchern auf. In den Unterrichtspausen an der Rudolf-Steiner-Schule werden um die Mittagszeit Märchen vorgelesen.

Der junge Mann mit der goldenen Pierre-Cardin-Uhr kennt keine Märchen. Er nennt sich Akin, ist 28 Jahre alt und arbeitslos. Akin lebt auf der Veddel und sagt: "Hier hat man null Chancen." Akin würde gern arbeiten. Aber er weiß nicht, wo er anfangen soll. Dabei gibt es auf der Veddel gerade für diese Jugendlichen Hilfe. "Jugend Aktiv" zum Beispiel, ein Programm der Beruf und Integration Elbinseln GmbH, das mit arbeitslosen Jugendlichen in einem dreimonatigen Betreuungsprozess Anschlussperspektiven entwickelt. Oder den Verein "Get the Kick", der Jugendlichen eine Chance geben möchte, in einer Bootsbauwerkstatt zu arbeiten. "Wir sind auf einem guten Weg", sagt Geschäftsführer Jürgen Hensen. "Veddel hatte immer ein schlechtes Image. Aber jetzt, da ist was aufgebrochen."

Ein Imageproblem gibt es in Nienstedten nicht. Der Stadtteil ist eine Perle in der Kette der Hamburger Elbvororte. Die durchschnittliche Wohnungsgröße beträgt 107,6 Quadratmeter. Es gibt viele Einfamilienhäuser. Auf der Veddel gibt es ausschließlich Wohnungen. 61,1 Quadratmeter groß im Durchschnitt. Größter Vermieter mit 1100 Wohnungen ist die Saga GWG. Sie hat zwischen 1994 und 2004 rund 75 Millionen Euro vor Ort investiert.

Tanja Dagan hat einen anderen Vermieter. Er drückte ihr eine Sprühflasche in die Hand, als sie ihm vom Schimmel im Kinderzimmer berichtete. "Wischen Sie das weg", hat er gesagt. Das funktioniert nicht. Aber wegziehen kommt für die 41-Jährige trotzdem nicht infrage. "Hier kenne ich doch alles", sagt sie. Die Menschen und die Kirche und die Tafel und das Veddeler Abendessen, bei dem manchmal auch Leute helfen, die aus den Elbvororten kommen. So wie die Kleider, die die Wilhelmsburger Kleiderkammer jeden Dienstagnachmittag im Gemeindehaus der Immanuelkirche auf der Veddel verteilt. Sie werden von der Nienstedtener Kirche in einem Container gesammelt. Eine eigene Kleiderausgabe hat der Stadtteil für seine 55 Hartz-IV-Empfänger nicht.

Und auch kein Abendessen für Bedürftige oder eine Suppenküche. Wer bedürftig ist, kann sich jeden zweiten Dienstag im Monat beim MitDachEssen des Freiwilligenforums Blankenese satt essen. Die Gäste sind fast ausschließlich Senioren. Für vier Euro bekommen sie eine frisch gekochte Mahlzeit, Joghurt, Wasser, Kaffee und Kuchen. Hartz-IV-Empfänger essen umsonst. Vor dem Essen wird gesungen. Die Stimmung ist gut.

Im Gemeindehaus auf der Veddel kostet das Abendessen für Hartz-IV-Empfänger 50 Cent. Kinder zahlen 20 Cent. Wer kein Geld hat, isst umsonst. Die Menschen, die kommen, sind arm. Sie schämen sich dafür. Am Ende des Monats zahlen sie mit den letzten Cent-Stücken. Manchmal leihen sie sich ein bisschen Geld aus der Kirchenkasse. Oder sie fragen nach Pfandflaschen. Und manchmal schmiert Pastor Stenz auch spontan Brote für die Betroffenen. Helmut Stein hilft ihm dabei. Er ist 71 Jahre alt, war früher Maurergeselle. Seit 37 Jahren lebt er auf der Veddel, fegt Laub auf dem Kirchengelände und gibt Essen aus. Er braucht keine Stütze. Aber viel hat er auch nicht. "Geld ist nicht alles", sagt er.

Auf dem Nienstedtener Marktplatz ist wieder Leben eingekehrt. Die vergangenen zwei Wochen war es noch ruhiger als sonst. "Die meisten waren in den Skiferien", sagt ein Anwohner. Irgendwo in der Schweiz oder Österreich oder Italien. Hartz-IV-Empfängerin Tanja Dagan ist noch nie Ski gelaufen. Helmut Stein auch nicht. Das kleine Mädchen von der Veddel aber kennt Berge. Aus dem Fernsehen. Seine reale Welt ist nicht größer als die Insel, auf der es zu Hause ist. Was diese Welt an Eindrücken, Genüssen und Wundern zu bieten hat, beschränkt sich für das Kind auf den Penny-Markt. "Penny ist bei vielen hier das Synonym für Essen, Trinken, Spielzeug, Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke", sagt Pastor Sterz. Mehr ist nicht vorstellbar.