Hamburg testet alle Zweitklässler der 204 Grundschulen. Motorische Defizite sollen erkannt und zudem Spitzentalente gefördert werden.

Hamburg. Als die Trauer im Hamburger Sport am größten war, sprach Karl-Joachim Dreyer aufmunternde Sätze. Wenn Hamburg schon nicht den Zuschlag für die Ausrichtung Olympischer Sommerspiele erhalten habe, "sollten 2012 wenigstens die meisten deutschen Olympiasieger aus unserer Stadt kommen". Das war vor neun Jahren. Dreyer war Präses der Handelskammer, und Hamburg hatte bei der nationalen Bewerbungskampagne um Olympia gerade eine bittere Niederlage gegen Leipzig einstecken müssen.

Dreyers Wunsch wird sich in diesem Jahr wohl nicht erfüllen. Hamburg wird im Sommer in London mit rund 20 Sportlern einen bescheidenen Anteil an der deutschen Olympiamannschaft stellen, und nur den Hockeyspielern wird zugetraut, wie 2008 in Peking in den Kampf um Gold einzugreifen. Dennoch sind Dreyers Worte auf fruchtbaren Boden gefallen. Als erstes Bundesland wird in Hamburg seit drei Jahren unter Sieben- bis Neunjährigen systematisch nach Sporttalenten gefahndet. Gegen Ende dieses Schuljahres, spätestens im Juni, sollen an den 203 Hamburger Grundschulen erstmals alle rund 14 000 Zweitklässler einen motorischen Test durchlaufen haben, der Aufschluss über ihr Bewegungspotenzial gibt. Das sieht der neue Rahmenplan Sport der Hamburger Schulbehörde vor.

Wir brauchen Sieger!

Boxen gegen Gewalt an Hamburgs Schulen

Gesündere Kinder durch mehr Sport

Die Besten, das sind nach den bisherigen Erfahrungen acht bis zehn Prozent eines Jahrgangs, werden an den Schulen oder in benachbarten Vereinen in Talentgruppen weiter gefördert. Derzeit existieren 59 Talentgruppen mit jeweils bis zu 15 Kindern, zwölf in Vereinen, 47 an Schulen, insgesamt 65 sollen es Ende des Jahres sein, später einmal 100 bis 110 in der ganzen Stadt. Für die übrigen Schüler wird die Behörde in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Sportbund (HSB), der Hamburger Sportjugend (HSJ) und der Universität Angebote entwickeln, um ihre motorischen Fähigkeiten zu verbessern.

"Der Schule", sagt Judith Kanders vom Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, "geht es nicht in erster Linie um Talentsichtung. Wir erhoffen uns von den Tests einen motorischen Status aller Schüler, um den Sportunterricht später darauf abzustimmen. Unser strategisches Ziel ist es, jedem Kind die optimale Förderung zukommen zu lassen." Entsprechende Lehrerfortbildungen bietet das Landesinstitut seit gut zwei Jahren an. Sie werden hervorragend wahrgenommnen. Kanders' inzwischen pensionierter Vorgänger Norbert Baumann, einer der Wegbereiter der Methode, hatte in der Schulbehörde ideologische und politische Bedenken ausgeräumt.

Der Leistungsport hat andere Interessen. Er will Olympiasieger, und diejenigen, die das Talent dafür haben, möglichst rechtzeitig erkennen. "Wenn Sportler später einmal internationales Niveau erreichen wollen, müssen die Voraussetzungen dafür früh geschaffen werden. Im Alter von 18 oder 20 Jahren sind viele körperliche Defizite nur noch schwer zu korrigieren", sagt Joachim Witt. Zwischen sieben und zehn Jahren sei das beste motorische Lernalter, hier sei mit einer breit gefächerten Bewegungsförderung anzusetzen.

Witt, 50, ist Talenttrainer beim HSB. Mit Klaus Mattes, Professor am Fachbereich Bewegungswissenschaften an der Universität Hamburg, und dessen Team hat er bekannte Motoriktests verfeinert und auf die Bedürfnisse des Schulunterrichts zugeschnitten. Der 72 Meter lange Parcours ist leicht in einer Turnhalle aufzubauen und in einer Schulstunde durchzuführen, ohne dass darunter die Aussagekraft der Ergebnisse leidet. 27 000 Kinder sind in den vergangenen Jahren an den Schulen und im Rahmen der Kinder-Olympiade der Topsportvereine über Bananenkisten gesprungen, haben Hütchen umkurvt und Bälle balanciert. Rund 1300 von ihnen wurden danach in die Talentgruppen übernommen "Die Beobachtungen der Lehrer und Trainer sowie Abgleiche mit anderen Verfahren decken sich mit unseren Resultaten. Wir finden die Talente", sagt Witt.

Vergleiche mit dem systematischen Talent-Screening einst in der DDR hält Witt für unzulässig: "Bei uns basiert alles auf Freizügigkeit, und nichts passiert, ohne dass die Eltern ihre Zustimmung gegeben haben." Auch der Datenschutz sei gewährt. Die Ergebnisse werden von den Lehrern ausgewertet und mit Empfehlungen an die Eltern verschickt. Die entscheiden, ob ihre Kinder weiterführende Maßnahmen wahrnehmen. In den Talentgruppen werden in den Klassenstufen drei und vier allgemeine Grundlagen trainiert, eine Spezialisierung auf einzelne Sportarten ist erst im Alter von zehn oder elf Jahren vorgesehen. Vereine und Verbände, so das HSB-Modell, sollen sich dann intensiv den Begabtesten widmen.

Hartmut Diekhoff ist Lehrer an der Grundschule Knauerstraße in Eppendorf. "Am Anfang", sagt der ehemalige HSV-Geschäftsführer, "war ich sehr skeptisch, was die Aussagekraft der Tests betrifft. Heute bin ich sicher, dass man damit Talente erkennen kann. Ich habe nur gute Erfahrungen gemacht." Seine Schüler offenbar auf. Alle Talente der Knauerstraße sind inzwischen Mitglieder eines Sportvereins. "Selbst wenn das der einzige Effekt sein sollte, hat sich der Aufwand gelohnt", sagt HSB-Mann Witt. "Ich bin aber überzeugt, dass dieses System auch Weltklassesportler hervorbringen wird."

HSV-Hürdensprinter Helge Schwarzer, 26, hat den Motoriktest in der Leichtathletik-Trainingshalle in Winterhude absolviert. Das Video sehen Sie unter www.abendblatt.de/parcours