Der Rücktritt Christian Wulffs im Spannungsfeld von Provinzialität und Professionalität

Ein 500 000-Euro-Kredit eines befreundeten Unternehmerpaares, fremdbezahlte Hotelzimmer und Upgrades bei Flügen, ein Drohanruf auf die Mailbox des "Bild"-Chefredakteurs, Staatshilfe für einen Party-Manager und einen Film-Freund - kein Stoff, aus dem normalerweise große Staatsaffären gestrickt sind. In südlichen Ländern ist so etwas höchstens ein Schulterzucken wert. In Deutschland reicht es aber aus, um die politische Karriere des Christian Wulff jäh zu beenden.

Über ähnliche Geschichten sind vor dem Bundespräsidenten schon die CSU-Strategen und "Amigos" Gerold Tandler und Max Streibl sowie der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth gestolpert. Der Liberale Jürgen Möllemann musste als Wirtschaftsminister gar zurücktreten, weil er auf Briefbögen seines Ministeriums für einen Pfandchip warb, den ein Vetter entwickelt hatte. Typisch deutsch, mag man denken, kleinkariert, geradezu spießig - und das in zweierlei Hinsicht. Einerseits wegen der scheinbar lächerlichen Dimensionen der Vergehen oder Vorwürfe, andererseits erschreckt der lächerliche Preis, für den einige Politiker bereit zu sein scheinen, die Regeln zu biegen oder zu brechen.

Doch hinter dieser Provinzialität steckt auch ein gehöriges Maß Professionalität. Deutschland ist zwar nicht frei von Korruption und Missbrauch öffentlicher Macht, diese Verfehlungen sind aber alles andere als alltäglich. Entsprechend sensibel reagieren Bevölkerung und Medien, wenn es auch nur den Anschein von zu großer Nähe von Politik und Wirtschaft gibt, wenn sich gegenseitig Vorteile gewährt werden, die notwendigerweise zu Lasten Dritter gehen, oder wenn die Finanzierung von Parteien intransparent ist. Zwischen Wirtschaftsförderung und Vetternwirtschaft gibt es einen Unterschied, und den gilt es penibel zu beachten.

Zu den Tugenden des Landes gehören eben Genauigkeit und Pflichtbewusstsein. Bei jeder Kassiererin oder bei jedem Buchhalter muss die Abrechnung auf den Cent genau stimmen, bei jedem Handwerker ist ein Millimeter ein Millimeter und nicht zwei, und es wird pünktliche Lieferung erwartet. Deutsche Produkte genießen nicht umsonst weltweit einen guten Ruf. Und der ist auch ein Ergebnis der Achtung von Vorschriften und Regeln, von Plänen und Toleranzen.

Diese engen Maßstäbe werden auch an die Politik angelegt. So wird aus teutonischen Kabalen zwar nie eine große italienische Oper. Das Land verfügt dafür aber über stabile politische Verhältnisse, eine im internationalen Maßstab gesehen hervorragend funktionierende Verwaltung und ein niedriges Korruptionsniveau. Und es tut gut daran, diese Standards zu halten. Dazu gehört auch, dass vor dem Gesetz alle gleich sind und der Staatsanwalt auch vor dem Staatsoberhaupt nicht haltmacht, wenn ein Verdacht auf Gesetzesverstöße vorliegt.

Christian Wulff ist davon überzeugt, dass die juristischen Vorwürfe, die gegen ihn erhoben werden, bald entkräftet sind. Er hält sich für unschuldig, sieht sich als Opfer der Medien und teilt diese Haltung mit seinem Rücktrittskollegen Karl-Theodor zu Guttenberg. Für Politiker, zumal für einen als moralische Instanz geltenden Bundespräsidenten, sind aber noch andere Kriterien als rein rechtliche maßgeblich: Vor allem der Umgang mit der Wahrheit und der selbst verordneten Transparenz ließen bei Wulff zu wünschen übrig. Daran sind nicht die Medien schuld, sondern der ehemalige Bundespräsident selbst.

Einsicht hin oder her, justiziable Verfehlungen oder nicht: Wulff hat den Schnitt gemacht, um weiteren Schaden vom Amt abzuwenden, wie er sagte, und so politisch begründet, dass die Zahlung seiner Ehrenpension nicht in Gefahr geraten kann. Der Mann ist sich und seinem Selbstverständnis treu geblieben.