Teil 11 der großen Abendblatt-Serie: Kinder, die wie Rayana schielen oder unter Schwachsichtigkeit leiden, bekommen Hilfe in der Sehschule.

Rayana El-Chami, 5, blickt durch ein Prismaglas, das ihr Orthoptistin Kristin Rettig, 47, vor das linke Auge hält. "Siehst du die Maus?", fragt Rettig. "Ja", kichert Rayana. In der Sehschule des UKE gehört diese Übung zu den vielen Methoden, mit denen Orthoptisten (Therapeuten für Sehstörungen) und Augenärzte der Augenklinik Schielen und Sehschwächen bekämpfen.

Schon ein leichtes Schielen, der Silberblick, ist keineswegs ein charmanter Makel, sondern kann zur ernsthaften Bedrohung der Entwicklung des Sehens werden. Neben dem ästhetischen Handicap birgt das Schielen vor allem eine Gefahr: Es beeinträchtigt das Sehvermögen und kann zu einer starken Sehschwäche führen, die das Kind ein Leben lang behält. Wie Rayana leiden mehr als fünf Prozent aller Kinder in Deutschland unter einem Schielen oder einer Sehschwäche.

Das Schielen, so war es auch bei Rayana, beginnt häufig bereits in der Wiege. Sie hatte von der Geburt an Probleme damit, ihre Augen richtig zu koordinieren. Den Eltern fiel erst sechs Wochen nach der Geburt auf, dass etwas nicht stimmte. "Im Gegensatz zu unserer älteren Tochter folgte sie uns nicht mit den Augen", erinnert sich Vater Mahmoud El-Chami, 32. Ihr Kinderarzt verwies das Paar an Augenarzt Dr. Roland Berger, 52, und die Sehschule des UKE. Die Diagnose: Rayana litt unter einem Ungleichgewicht der Augenmuskulatur. Das führte dazu, dass ihre Augen beim Betrachten (Fixation) stark voneinander abwichen - nichts anderes als diese Fehlfunktion der Augenmuskulatur ist Schielen.

Die große Abendblatt-Gesundheits-Serie

Ratsam ist es, sagt Berger, das Kind schon beim ersten Verdacht untersuchen zu lassen. Vor allem wenn Verwandte schielen. "Denn die Augenerkrankung ist vererbbar, und bei einem Elternteil mit Schielfehler steigt das Schielrisiko des Kindes auf 30 Prozent", erklärt der Augenarzt.

Rayana leidet neben dem Schielen noch unter einer anderen Augenerkrankung. Im UKE stellte Berger eine weitere Diagnose: Grauer Star (Katarakt), eine Trübung der Augenlinse, die gewöhnlich im höheren Alter vorkommt, aber in seltenen Fällen angeboren ist (Auslöser kann u. a. eine Röteln-Infektion der Mutter während der Schwangerschaft sein).

Im dritten Lebensmonat schon entfernten die Ärzte daher Rayanas getrübte Linse. Erst später, mit vier Jahren, ersetzten sie diese durch eine Kunstlinse. Den Eingriff nehmen Ärzte erst im Vorschulalter vor, da das Auge bis dahin ausgewachsen ist. Das hochgradige Schielen, das die Ärzte diagnostizierten, musste ebenfalls operiert werden. Vorher prüften die Mediziner die Sehschärfe. Das ist schon sehr früh möglich: "Prinzipiell ist eine Untersuchung ab den ersten Lebenstagen durchführbar; eine ,Visuserhebung' mit speziellen Tafeln, die die Sehschärfe prüft, können wir ab dem dritten Lebensmonat ausführen", erklärt Berger. Schielen und Sehschwächen - diese Erkrankungen des Auges gehen oft miteinander einher. Der Leiter der Sehschule erklärt, wie aus einem Schielen eine krankhafte Sehschwäche wird: "Auf Schielen kann das Gehirn mit einem Abwehrmechanismus reagieren, um Doppelbilder zu vermeiden, der eine einseitige Schwachsichtigkeit verursacht." Bei einem schielenden Kind können sich die zwei Bilder, die die Augen liefern, sehr stark voneinander unterscheiden. So stark, dass sie das Gehirn nicht zu einem einzelnen räumlichen Bild zusammensetzen kann. Um starke Doppelbilder zu vermeiden, vernachlässigt das Gehirn das schielende Auge, was dazu führt, dass dieses an Sehschärfe verliert. Unbehandelt passiert das in 80 bis 90 Prozent der Fälle. Die Diagnose lautet dann Amblyopie - Schwachsichtigkeit.

Umgekehrt kann auch eine Sehschwäche Schielen verursachen: "Weitsichtige Kinder neigen oft zum Einwärtsschielen, bei dem die Pupille zur Nase hin schielt", erklärt Berger. Weitere Formen sind das Auswärts- und Höhenschielen sowie das Verrollungsschielen.

Sehschwächen oder Schielen entwickeln sich bei Kindern häufig in den ersten Lebensmonaten und -jahren. "Am anfälligsten ist die Sehentwicklung zwischen Geburt und viertem Lebensjahr", sagt Prof. Gisbert Richard, 62. Der Augenarzt ist Leiter der Klinik für Augenheilkunde am UKE und behandelt viele Kinder. Er bezeichnet vor allem die Sehschwäche bei Kindern als "eine oftmals übersehene Gefahr": "Wird die Entwicklung des Sehvermögens gestört, entwickelt sich eine Schwachsichtigkeit - auch wenn keine Erkrankung der Strukturen des Auges nachweisbar ist", so Richard. Häufig sei eine Sehschwäche bei Kleinkindern für den Laien nicht erkennbar, keine sichtbare Veränderung weise darauf hin.

Einige Alarmsignale sind aber zum Beispiel Augentränen oder Augenzittern. Auch hohe Lichtempfindlichkeit und später eine schräge Kopfhaltung sowie unbeholfene Bewegungen sind Anzeichen für die Augenerkrankung. Ärzte raten außerdem dazu, auf die Orientierungsfähigkeit des Kindes in unbekannter Umgebung zu achten. Ein weiterer Tipp: Auch das spielerische Abdecken eines Auges kann eine solche Sehschwäche deutlich machen - reagiert das Kind auf beiden Augen oder nur auf einem?

Ein starkes Schielen hingegen fällt auf. Ob eine Operation notwendig ist, richtet sich nach der Größe des Schielwinkels. "Operationswürdig ist ein Patient ab einem Schielwinkel von acht Grad", sagt Berger. Dann ist, wie im Fall von Rayana, eine Augenmuskeloperation nötig, bei der die Fehlstellung des schielenden Auges behoben wird. Schieloperationen nehmen die Ärzte in der Regel im Vorschulalter vor.

Bei vielen Patienten genügt jedoch eine Behandlung ohne Operation. Häufig erfolgt eine Therapie mit speziellen Brillen. Zum Beispiel mit Bifokalbrillen, die zwei Brennpunkte haben, oder Prismenbrillen, durch deren Gläser sich das Licht so bricht, dass ein schielendes Auge zum geraden Blick angeregt wird.

Die fünfjährige Rayana trägt, da sie auch unter einer Sehschwäche leidet, jeden Tag für zwei Stunden ein Augenpflaster. Bei der weit verbreiteten Okklusions-Therapie (lat. occludere "verschließen") stabilisiert ein lichtundurchlässiges Pflaster die Sehkraft des schwachsichtigen Auges und trainiert es, indem es das dominante Auge abdeckt. "Die Therapie schlägt wunderbar an", sagt Rayanas Vater. Beim Rennen sei sie schon viel sicherer geworden. Rayana besucht jedes halbe Jahr die Sehschule im Uniklinikum Eppendorf. Und kann auch wieder beim Herumtoben mit ihren Freunden im Kindergarten mithalten.

Alle Folgen

28.1. Bauchschmerzen

30.1. Neurodermitis

31.1. Infektionen

1.2. Diabetes

2.2. Asthma und Allergien

3.2. Erkältungen

4.2. Sport und geistige Entwicklung

6.2. Spielen und seine Bedeutung

7.2. Kopfschmerzen

8.2. Ernährung

9.2. Augenkrankheiten

10.2. Unfälle

11.2. Gesundheitsgipfel