Zwei Experten, zwei Meinungen: Jürgen Oelkers von der Uni Zürich plädiert für sechs Jahre gemeinsames Lernen, Lehrerverbandspräsident Josef Kraus reichen vier Jahre

Kontra

Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt des Übergangs eines Kindes von der Grundschule in eine weiterführende Schule ist eindeutig beantwortet: Im zehnten/elften Lebensjahr ist die Eignung eines Kindes für eine Schulform und - umgekehrt - die Eignung einer Schulform für die Förderansprüche eines Kindes solide einschätzbar. Diese Einschätzung gelingt zu keinem späteren Zeitpunkt besser - schon gar nicht, wenn sich die Heranwachsenden in der Vorpubertät befinden. Mehr noch: Ein um zwei Schuljahre verzögerter Übertritt provoziert eine Unterforderung Gymnasialgeeigneter in den Klassen 5 und 6 sowie eine Überforderung der für ein Gymnasium eher nicht Geeigneten. Damit leiden die Leistungen aller Schüler. Dies gilt gerade für das Modell der vorgesehenen sechsjährigen Primarschule, weil diese, anders als etwa die Gesamtschulen in Hamburg, noch nicht einmal eine äußere Leistungsdifferenzierung kennt.

Namhafte Studien sagen: Sechsjährige Grundschule bringt nichts. Berlin und Brandenburg mit einer sechsjährigen Grundschule gehören zu den PISA-Verlierern. All dies könnte nicht überraschen, wenn man den gerade von Vertretern egalisierender Schulpolitik gerne zitierten Heinrich Roth zur Kenntnis genommen hätte. Dieser hatte 1968 geschrieben: "Die Denkbegabung und das Denkbedürfnis bricht im zehnten/elften Lebensjahr in so verschiedenen Stärken durch, dass die Unterschiede im Grad der allgemeinen Begabung das Auffälligste sind, was man in diesem Alter betrachten kann ... Im Interesse der Höchstausbildung aller Begabungsgrade kommen wir um die Trennung nach dem Grad der Begabung im zehnten/elften Lebensjahr nicht herum."

Diese Urteile setzen sich fort. Peter Roeders (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin) Fazit lautet 1997: "Die Leistungen nach sechsjähriger Grundschule liegen erheblich unter denen von Schülern, die den Wechsel aufs Gymnasium bereits nach der 4. Grundschulklasse vollzogen haben." Kurt Heller (Ludwig-Maximilians-Universität München) stellt seit 1999 regelmäßig fest: "Eine Verlängerung der vierjährigen Grundschule würde keine erkennbaren Vorteile, wohl aber mit Sicherheit Nachteile für viele Grundschüler mit sich bringen. Diese betreffen nicht nur Leistungsaspekte, sondern tangieren die gesamte Persönlichkeitsentwicklung."

Kaum anders die Element-Studie von Rainer Lehmann (Humboldt-Universität Berlin) von 2008. Hier lauten die Ergebnisse: Der Rückstand am Ende der 6. Grundschulklasse beträgt im Lesen eineinhalb Jahre, in Mathematik und Englisch zwei Jahre (im Vergleich mit Schülern, die nach der 4. Klasse in eine weiterführende Schule gehen). Zwei Extrajahre Grundschule bringen zudem keinerlei Abbau sozialer Disparitäten. Die soziale Schere öffnet sich sogar noch weiter. Selbst der Lehmann-Kritiker Jürgen Baumert räumt ein: Es gebe "keine belastbare empirische Evidenz" für die Wirkungen einer zweijährigen Verlängerung der Grundschule. Zuletzt bezeichnete "PISA-Papst" Baumert die Auseinandersetzung um die sechsjährige Primarschule als "völlig unnötigen bildungspolitischen Streit", der wirklich notwendige Reformen vergessen lasse. Zum Beispiel - so Baumert - müsse man sich darauf konzentrieren, den Anteil von 20 Prozent Schülern, die schulischen Mindestzielen nicht genügten, zu reduzieren.

Eine verspätete schulische Differenzierung leistet hierzu jedenfalls keinen Beitrag, vielmehr ist sie ungerecht gegenüber begabten Kindern aus bildungsfernen Schichten. Während Eltern bildungsnaher Schichten ihre Kinder bei einem späteren Übertritt an eine weiterführende Schule privat fördern können, bleibt ihren Alterskollegen aus anderen Elternhäusern die individuelle Förderung, die sie in einer für sie passenden Schule bereits in der 5. und 6. Klasse erfahren könnten, versagt.

Die Differenzierung nach der 4. Grundschulklasse ist nicht nur notwendig. Es ist zu diesem Zeitpunkt auf der Basis des Elternwahlrechts sowie auf der Basis der Leistungen eines Kindes in Deutsch und Mathematik eine klare Prognose möglich. Das Übertrittszeugnis der Grundschule kann einen hohen prognostischen Wert haben. Diese prognostische Aussage könnte noch gesteigert werden und noch gerechter ausfallen, wenn das Übertrittsverfahren etwa mit einheitlichen Probearbeiten konsequenter ausgestaltet würde.

Völlig aus dem Blick scheint mit der Debatte um die Primarschule zu geraten, dass mit ihr die bislang auch in Hamburg erfolgreichste Schulform in ihren Bildungsmöglichkeiten beschädigt wird: das Gymnasium. Bereits die Verkürzung zum "G8" hat ihm schwer geschadet. Nach seiner Enthauptung würden dem Gymnasium mit der Primarschule nun auch die Beine amputiert. Aus einem neunjährigen Gymnasium aus einem Guss würde damit ein sechsjähriges Bonsai-Gymnasium. Es müsste in seiner neuen Eingangsstufe, der 7. Klasse, auf erheblich niedrigerem Niveau ansetzen, als dies bislang möglich war. Vor allem aber verliert ein sechsjähriges Gymnasium den unschätzbaren pädagogischen Charme, eine Schule zu sein, die Heranwachsende über drei Lebensalter hinweg kontinuierlich fördert: von der Kindheit über die Jugend bis zum jungen Erwachsenenalter. Unterrichtsstunden, die Gymnasiallehrer in den Klassen 5 und 6 einer Primarschule halten sollen, wären da nur ein Feigenblatt.

Fazit: Die finanziell ohnehin reichlich klamme Hansestadt wäre gut beraten, die fast 400 Millionen Euro, die eine Primarschule kostet, sinnvoll einzusetzen - zum Beispiel im sozialpolitisch so enorm wichtigen Bereich der Vorschulbildung. Die Von-Beust-CDU aber muss aufpassen, dass sie nicht den letzten Rest an bildungspolitischer Glaubwürdigkeit verspielt.