Einmal im Jahr konnte Hamburg mit den großen Kunstzentren der Weimarer Republik mithalten. Legendäre Künstlerfeste im Curio-Haus.

Hamburg. Der Krieg ist vorüber, aber die Not hat kein Ende. Anfang der 20er-Jahre herrscht in Hamburg noch immer Hunger, nach wie vor sind Zehntausende arbeitslos. Viele wissen nicht, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Wer im kalten Januar 1920 vom Hauptbahnhof über die Mönckebergstraße zum Rathausmarkt läuft, begegnet abgerissenen Menschen und Kriegskrüppeln, die um Spenden betteln. Es brodelt in der Stadt, Agitatoren rechter und linker Parteien werben für ihre Ideen.

Der aus SPD und der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei gebildete Senat bemüht sich zwar, die politische und wirtschaftliche Situation zu stabilisieren, stößt aber schnell an Grenzen. Hamburgs Wirtschaft, vor allem die Werften und der Hafen, leiden unter den Vorgaben des Versailler Vertrags. Während die Arbeitslosenzahl langsam abnimmt, steigt zugleich die Inflationsrate steil an. Notgeld wird ausgegeben, viele Menschen verlieren ihren letzten Besitz. Wer seine Lohntüte ausgehändigt bekommt, rennt sofort los, um noch möglichst viele Lebensmittel kaufen zu können. Schon Stunden später kann das Notgeld seinen Wert verloren haben. Erst als Ende 1923 die Inflation überwunden ist, wird die Lage stabiler und der Alltag für den größten Teil der Hamburger erträglicher.

Die Menschen, die im Krieg unter Entbehrungen und Hunger gelitten haben, wollen sich endlich wieder vergnügen. Kein Wunder also, dass Cafés und Kinos, Bars und Tanzlokale wie Pilze aus dem Boden sprießen. Im Alsterpavillon wird ab 1925 Charleston getanzt, aber auch im Trocadero an den Großen Bleichen, im "Trichter" oder im "Allotria" an der Reeperbahn geht es heiß her. Im August 1927 würdigt die Stadt einen ihrer größten Söhne und setzt dem Dichter Heinrich Heine, der sich in Hamburg mit wenig Erfolg als Geschäftsmann versucht hatte, ein Denkmal. Das von Hugo Lederer entworfene Bronzestandbild wird im Stadtpark enthüllt.

Wahrscheinlich hätte Heinrich Heine, der Hamburg zwar liebte, aber immer auch ein wenig spöttisch betrachtet hat, nicht schlecht gestaunt über das, was sich hier kulturell in den 20er-Jahren tut. Vor allem Ende Januar/Anfang Februar ist die Stadt wie elektrisiert. Immer zur Faschingszeit veranstalteten die Künstler im Curio-Haus an der Rothenbaumchaussee Feste, über die die ganze Stadt spricht. Es sind nicht einfach Faschingsveranstaltungen, sondern Gesamtkunstwerke, zu denen neben Malern und Bildhauern auch Literaten, Schauspieler, Sänger, Tänzer aber auch Bühnenbildner und Architekten beitragen. Schon Monate zuvor haben die Organisatoren in Künstlercafés wie dem "Tante Klara" im Brandsende/Ecke Raboisen zusammengesessen und Ideen und Konzepte entwickelt. Organisiert werden die Events vom Verein Hamburger Künstlerfeste. Das erste Fest nach dem Krieg, das im Winter 1919 über die Bühne geht, heißt "Die Dämmerung der Zeitlosen" und ist in Aufwand und Dekoration noch eher bescheiden. Aber der Erfolg ist so groß, das es eine Fortsetzung geben soll.

Für "Die Götzenpauke", so heißt 1921 das Motto, wird das gesamte Curio-Haus mit Südsee-Dekorationen von Friedrich Adler und Richard Luksch versehen. Schon die von Otto Fischer-Trachau entworfenen Einladungskarten zeigen Südseemasken. Die Künstler erscheinen in Kostümen, die sich auf ozeanische Kulturen beziehen und geheimnisvoll und fremd wirken. Hier zeigt sich die Faszination, die die Südsee und Afrika auf die Künstler des Expressionismus ausübt.

Das Gedränge ist groß, es ist heiß, die Luft ist zum Schneiden. Atemlos verfolgen die Gäste den Tanz des Paares Lavinia Schulz und Walter Holdt, die sich wie fremdartige Wesen in ihren merkwürdigen, bedrohlich wirkenden Masken bewegen. Sind das Menschen oder doch eher Maschinen, fragen sich manche Zuschauer, die nie zuvor ähnliche Bewegungen gesehen haben. Dann erklingen Jazzrhythmen, es wird getanzt. Schauspieler mischen sich unter das Publikum, führen Sketche auf. Dichter rezitieren zwischen tanzenden Paaren, und der Schriftsteller, Maler, Musiker und Kabarettist Otto Tejus Tügel springt, wie es in einem zeitgenössischen Bericht heißt, "in ekstatischer Wildheit" auf die Bühne, um dort einen "Duk-Duk-Tanz der Südsee" aufzuführen, während die Schwestern Ursula und Gertrud Falke, Pioniere des damals angesagten Ausdruckstanzes, ihren "Götzenbumbum" geben. Bewundernd schreibt die "Neue Hamburger Zeitung": "Keins der bisherigen Künstlerfeste hat in so prachtvollem Rahmen gestanden: märchenhafte Buntheit, oft ganz wenige Farben zu gewaltigen Mustern, zuweilen zu einem verwirrenden Teppichglanz gewoben. Der große Saal kuppelhoch gewölbt, in der Mitte eine Riesenampel, der schmetternde Paukenvorhang der Bühne von den beiden Götzen flankiert."

In den Augen von Hamburgs braven Bürgern verwandelt sich das Curio-Haus alle Jahre wieder in die hanseatische Dependance von Sodom und Gomorrha. Mit wohligem Schauder verfolgen sie die ausführlichen Zeitungsberichte.

Für die kreative Szene in der Hansestadt ist die Teilnahme an den Künstlerfesten dagegen ein Muss, ein Stadtgespräch sind sie allemal. Zumindest einmal im Jahr kann Hamburg für ein paar Tage mit den großen deutschen Kunstzentren der Weimarer Republik, mit Berlin und mit München, mithalten. "Cubicuria, die seltsame Stadt", heißt 1924 das Motto, "Curioser Cirkus" 1927. 1929, in dem Jahr, in dem die Weltwirtschaftskrise ausbrechen wird, feiert man im Februar noch "Plüsch und Ploröse", im politischen Krisenjahr 1932 heißt das Motto "Krawall im All". "Himmel auf Zeit", die Überschrift, unter der Hamburgs Künstler 1933 noch einmal ausgelassen feiern, klingt wie der Abgesang an eine große Zeit. Am 30. Januar ist Hitler in Berlin zum Reichskanzler gewählt worden. Die Nazis übernehmen auch in Hamburg die Macht. Für viele Hamburger Künstler hat sich der "Himmel auf Zeit" innerhalb weniger Tage in eine Hölle auf Erden verwandelt. Viele werden verfolgt oder ins Exil getrieben. Als die Künstlervereinigungen Hamburger Sezession, die zu den wichtigsten Organisatoren der Feste gehörte, Anfang März gezwungen werden soll, ihre jüdischen Mitglieder auszuschließen, zieht sie es vor, sich selbst aufzulösen. Am 16. März 1933 trifft man sich ein letztes Mal zum gemeinsamen Umtrunk. Der Champagner wird mit den Resten des Vereinsvermögens bezahlt. Auch in den folgenden Jahren wird es im Curio-Haus Künstlerfeste geben - aber es sind Veranstaltungen weit jenseits des freien Geistes.