Der Literaturwissenschaftler Dirk Hempel, der zu den Initiatoren des Festivals "Himmel auf Zeit" gehört und mit Friederike Weimar das Begleitbuch herausgibt, über Hamburgs Kulturszene in der Weimarer Republik.

Abendblatt: Die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts waren in allen europäischen Kulturzentren eine spannende Zeit. Was hat die Situation in Hamburg besonders geprägt, etwa im Vergleich zu Berlin und München?

Dirk Hempel: Das Besondere sind die Künstlerfeste. So etwas gab es zwar auch in München oder Berlin, aber in Hamburg hatten sie eine viel stärkere Intensität. Diese Feste wurden seit 1919 jedes Jahr zu Fasching von verschiedenen Vereinen veranstaltet.

Abendblatt: Dass Künstler Fasching feiern, ist relativ normal. Weshalb hatten die Künstlerfeste in Hamburg eine so große Bedeutung?

Hempel: Es waren nicht einfach Feste, sondern Gesamtkunstwerke, die unter dem Einfluss des expressionistischen Aufbruchs standen. Das zweite Fest hatte das Motto „Die gelbe Posaune der Sieben“. Die Sieben steht für die sieben freien Künste. Entscheidend ist das Zusammenspiel der Künstler aus den unterschiedlichen Disziplinen, die diese Feste jeweils zu einem Gesamtkunstwerk machten. Beteiligt waren nicht nur Schriftsteller und Maler, sondern auch Theaterleute, Architekten und sogar Gartenkünstler. Die Feste dauerten mehrere Nächte, tagsüber konnte die Hamburger Bevölkerung die Dekorationen besichtigen. Von dem damit eingenommenen Geld wollten die Künstler ein eigenes Ausstellungshaus finanzieren. Doch dafür hat es nie gereicht.

Abendblatt: Wo fanden die Feste statt?

Hempel: Zunächst nur im Curiohaus, später hat dann die Schriftstellervereinigung „Hamburger Gruppe“ eigene Feste veranstaltet, die im Altlantic Hotel stattfanden. Diese hatten aber einen anderen Charakter, richteten sich weniger an Künstler, Journalisten und Kunstsammler als an das arrivierte und wohlhabende Bürgertum.

Abendblatt: Wie wurden die Künstlerfeste in der Öffentlichkeit wahrgenommen?

Hempel: Sehr unterschiedlich. Man empfand sie in jedem Fall als spektakulär, bewunderte die Dekorationen und war fasziniert, weil es ja in den ersten Jahren vielfach um fremde Kulturen ging.

Abendblatt: Gab es keine Kritik?

Hempel: Oh doch, die richtete sich vor allem gegen die Freizügigkeit. Ein Hamburger Hausfrauenverein ist sogar gerichtlich gegen die Veranstalter vorgegangen, allerdings erfolglos.

Abendblatt: Gefielen sich die Künstler in der Rolle des Bürgerschrecks?

Hempel: Ja, denn die expressionistische Kunst war antibürgerlich, obwohl sie vom Bürgertum wiederum sehr wohlwollend aufgenommen worden ist. Es gab berühmte Hamburger Kunstsammler, die expressionistische Künstler gefördert haben. Dennoch richtete sich der Aufbruch der expressionistischen Kunst gegen die als verkrustet empfundene bürgerliche Gesellschaft.

Abendblatt: War die Hamburger Künstlerszene der 20er-Jahre auch jenseits der Feste spannend?

Hempel: Spannend ist, dass es grundsätzlich viel Zusammenarbeit bei Projekten gab, zum Beispiel bei Zeitschriften wie „Die rote Erde“, die von dem expressionistischen Künstler Karl Lorenz und der Kunsthistorikerin Rosa Schapire herausgegeben wurde. Bilden Künstler, Schriftsteller und Musikkritiker arbeiteten hier zusammen.

Abendblatt: Wie stand es um die literarische Szene?

Hempel: Das gab es neben dem experimentierfreudigen Hans Henny Jahnn zum Beispiel Hans Leip, der ein Tausendsassa der Künste war und sich auf allen möglichen Feldern getummelt hat – als Puppenspieler, Dramatiker, Bildhauer, Romanautor oder Organisator von Künstlerfesten. Es dominierten aber vor allem konventionelle Tendenzen, wie bei der „Hamburger Gruppe“, die sich zwar selbst als Avantgarde bezeichnete, diesen Anspruch aber kaum einlöste. Interessant ist, dass es im Bereich der niederdeutschen Literatur neben der volkstümlichen Strömung auch eine Verbindung zur völkischen Bewegung gab, die ideologische aufgeladen war und im Verlauf der 20er-Jahre auch politischer wurden. Protagonisten der antimodernen Literatur waren nicht nur der Schriftsteller Hans Friedrich Blunk, der 1933 Präsident der Reichsschriftumskammer wurde, sondern auch die Hanseatische Verlagsanstalt, die zum einflussreichen, völkisch und antisemitisch ausgerichteten Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband gehörte, der seinen Hauptsitz in Hamburg hatte.

Abendblatt: Aber es gab doch sicher auch linke Schriftsteller.

Hempel: Einer der frühen sozialistischen Autoren war Franz Jung. Er hatte eine Partei links von der KPD mitbegründet. Um sich in der Sowjetunion für die Aufnahme in der Kommunistischen Internationale zu bewerben, kaperte er 1920 den Hamburger Fischdampfer „Senator Schröder“, mit dem er nach Murmansk fuhr und in der Sowjetunion tatsächlich Lenin traf. Nach seiner Rückkehr wurde er wegen „Schiffsraub auf hoher See“ verurteilt und inhaftiert. Im Gefängnis schrieb er mehrere Bücher, ebenso wie einige Jahre später sein kommunistischer Autorenkollege Willi Bredel.

Abendblatt: Wo gab es in Hamburg Avantgarde?

Hempel: Es gab den Architekten Karl Schneider, außerdem Erich Ziegels Kammerspiele, die eine Hochburg der expressionistischen Dramatik waren. Der junge Gründgens und Klaus Mann, Pamela Wedekind und Erika Mann traten hier zusammen auf. Interessante Entwicklungen finden wir auch in der Porträt- und der Pressefotografie mit Alltagsreportagen. Wichtig wird in Hamburg dann die Architekturfotografie. Fritz Högers Chilehaus, ein Musterbeispiel moderner Architektur, wurde erst durch die Aufnahmen von Carl und Adolf Dransfeld zur weltberühmten Ikone. Außerdem war Hamburg eine Hochburg des modernen Tanzes.

Abendblatt: Wie golden waren die goldenen 20er in Hamburg?

Hempel: Es war eine sehr kreative und spannende Zeit, von der wir eigentlich noch immer zehren. Aber in Wahrheit waren die 20er-Jahre auch in Hamburg nicht so golden. Dem Rausch folgte bald Ernüchterung. In der Kultur wurden schon seit Mitte der 20er-Jahre Tendenzen immer stärker, die antimodern waren und sich gegen Experiment, Freiheit und Erneuerung richteten. Zum Teil bedienten sie sich der Formen der Avantgarde, doch die Inhalte waren rückwärts gewandt.