Mit Handel und Wandel zum Erfolg: Seit 800 Jahren mischt Hamburg in der Weltwirtschaft ganz vorne mit. Das könnte so bleiben, glaubt man dem Ökonomen Michalski.

Hamburg. Über der Elbe liegt ein gräulicher Dunst. Noch hält die Kälte den Hafen und die Stadt im Griff. Aus dem gediegenen Salon des Hafen-Klubs an den St. Pauli Landungsbrücken blickt man durch die Panoramascheiben auf das Herz der Hamburger Wirtschaft, auf den Strom, auf dem sich kleinere Frachter langsam ihren Weg bahnen, auf das Trockendock der Werft Blohm + Voss gegenüber, in dem ein Containerschiff zur Reparatur liegt. Die Elbe, der Hafen, die maritime Wirtschaft haben Hamburg zu einer Metropole des Welthandels gemacht. Doch der Hafen, das "Tor zur Welt", steckt wie die Weltwirtschaft selbst in der schwersten Krise seit vielen Jahren. Und der Schiffbau in Hamburg ist ohnehin nur noch ein Abglanz früherer Zeiten. Bald schon soll Blohm + Voss, die letzte Großwerft der Stadt, an den arabischen Investor Abu Dhabi Mar verkauft werden.

Bleibt der Wiederaufstieg, den Hamburgs Wirtschaft seit der deutschen Einheit vor 20 Jahren erlebt hat, bleibt der zurückliegende Boom des Welthandels an der Elbe nur eine Episode? Eine schnelle Antwort darauf will Wolfgang Michalski nicht geben. Er ist Volkswirtschaftler, einer der erfahrensten Ökonomen der Welt. Rund 20 Jahre lang hat der gebürtige Hamburger den Planungsstab der Welt-Wirtschaftsorganisation OECD geleitet, bis zum Jahr 2001. Er weiß um die Verlockung von Prognosen, wie er auch ihre Schwächen kennt. Kaum ein Wirtschaftsweiser sah diese Krise und ihre Bedrohlichkeit rechtzeitig heraufziehen, die im September 2008 mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers einen traurigen Höhepunkt erreichte.

"Wenn man ein Bild von der Zukunft bekommen will, sollte man in die Vergangenheit sehen", sagt Michalski in einem schweren Klubsessel bei einer Tasse Kaffee. Das hat er getan und legt nun eine Geschichte der Globalisierung vor, eine Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklungsschübe von der Antike bis zur modernen Weltwirtschaft. Deren Titel "Hamburg - Erfolge und Erfahrungen in der globalisierten Welt" ist sperrig, der Inhalt hingegen ist es nicht.

Historische Abhandlungen über die Globalisierung, über das Wachstum des Welthandels und das Zusammenwachsen der Märkte, gibt es zuhauf. Das Besondere an Michalskis Werk ist, dass er Hamburg in das Zentrum seiner Betrachtungen stellt, dass er die Wirtschaftsgeschichte der Elbmetropole in der Entwicklung der Weltwirtschaft spiegelt.

Damit greift der 73-Jährige auch seine eigene Vita auf. Michalski ist in Hamburg verwurzelt, nicht nur, weil er hier geboren wurde, sondern auch durch den Beginn seines Berufsweges. Unter anderem bei Karl Schiller, dem späteren Bundeswirtschaftsminister, holte sich Michalski in den 50er- und 60er-Jahren das akademische Rüstzeug für seine Karriere. Später lehrte er Volkswirtschaft an der Universität Hamburg und machte aus dem Hamburgischen Welt-Wirtschaftsarchiv (HWWA), dem Vorläufer des heutigen HWWI, ein modernes Forschungsinstitut. Bei der OECD organisierte er etliche Konferenzen zur Reform des internationalen Handels mit. So schuf er sich ein weites ökonomisches und politisches Weltbild.

"In den vergangenen 1000 Jahren, also etwa seit der Entstehung Hamburgs, sind etliche Städte in Europa als Wirtschaftsmetropolen auf- und wieder abgestiegen", sagt Michalski, "seien es Venedig oder Genua, Lübeck oder Brügge, Antwerpen oder Amsterdam. Nur zwei Städte - London und Hamburg - haben von der wirtschaftlichen Entwicklung, von allen Vorstufen und Stufen der Globalisierung, in dieser langen Zeit fast durchgehend profitiert. Nur diese Metropolen haben nach allen Rückschlägen wieder den Anschluss an die Weltwirtschaft gefunden."

Hamburgs wirtschaftlicher Aufstieg begann in der Mitte des 13. Jahrhunderts, als die Stadt Mitglied der Hanse wurde. Dieser Städtebund, der seinen Schwerpunkt an der Ostsee und an der Nordsee hatte, war eine Art frühe Europäische Union, eine aufstrebende Handelszone mit klaren Regeln und lange Zeit mit gemeinsamer Währung, der lübischen Mark, benannt nach Lübeck, das zunächst das ökonomische Zentrum der Hanse war.

In der frühen Phase der Hanse fungierte Hamburg vor allem als Lübecks Tor in die Nordsee. Zugleich aber entwickelte sich die Stadt im 14. Jahrhundert zur europäischen Metropole des Bierbrauens. Bier war damals ein wertvolles Grundnahrungsmittel, doch gebraut wurde oft mindere Qualität. Die Hamburger Brauer boten hingegen Premiumware an, die in der Stadt wie auch als Exportgut begehrt war. So verdrängten sie die Konkurrenz unter anderem aus Bremen.

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, schreibt Michalski, gab es in Hamburg mehr als 530 Brauereien. Innerhalb der Grenzen, die heute die engere Hamburger Innenstadt markieren, brauten sie gut 700 000 Hektoliter im Jahr. Der größte Teil davon ging in den Export und stellte über einen langen Zeitraum etwa ein Drittel aller Hamburger Ausfuhren dar: "Hamburger Bier wurde in England und Preußen wie auch in Russland, Spanien oder Portugal getrunken", heißt es im Buch.

Über Jahrhunderte löste in Europa mit Beginn der Neuzeit eine Handelsmacht die andere ab. Die Gewichte verschoben sich von den italienischen Handels- und Finanzhäusern in Venedig und Genua mit der Entdeckung Nord- und Südamerikas hin nach Spanien und Portugal. Auf deren große Zeit folgte die der Niederländer, mit Handelsmetropolen wie Antwerpen und Amsterdam, Brügge und Gent. Schließlich etablierte sich England als führende See- und Handelsmacht.

Hamburg schwamm in all dieser Zeit bis ins 19. Jahrhundert hinein erfolgreich in der Weltwirtschaft mit. Die Stadt profitierte als Knotenpunkt im internationalen Netzwerk vom wachsenden Handel und Wohlstand. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts stieg Hamburg mit 40 000 Einwohnern zur größten deutschen Stadt auf. Zugleich war die Hansestadt der größte deutsche Hafen, lange bevor es einen Staat Deutschland geben sollte. Den Erfolg des Bierbrauens wiederholte Hamburg später, als es zeitweise zum führenden europäischen Standort bei der Zuckerproduktion wurde wie auch zum Zentrum der Tuchweberei. Hamburgs Hafen galt im späten 19. Jahrhundert als wichtigster Handelsplatz in Kontinentaleuropa.

Etliche Umstände trugen zu diesem steten Aufschwung bei. Von Kriegen blieb Hamburg, das sich meist neutral verhielt, weitgehend verschont, vor allem vom Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert, der weite Teile des heutigen Deutschlands und angrenzende Regionen verwüstete. Doch gedieh in der Hansestadt auch eine besondere Wirtschaftskultur: "Hamburg war und ist eine Kaufmannsstadt, die wandlungsfähig und immer innovativ war", sagt Wolfgang Michalski. "Man hat sich meist erfolgreich darauf konzentriert, den Wandel mitzugestalten oder sich ihm anzupassen. Überkomme Strukturen wurden in der Regel nicht mit Subventionen erhalten."

Michalski berichtet all das im Tonfall eines Grandseigneurs, eines Weltbürgers, der mit sicherem Urteil durch die Epochen streift. Doch auch der Professor, der Vortragende aus seinen frühen Berufsjahren blitzt hier wieder auf - aus Details findet er schnell zum Grundsätzlichen und vermag mit beidem zu fesseln.

Lübeck und andere Hansestädte verloren ihren Status, weil sie veraltete Wirtschaftsregeln - anders als Hamburg - nicht abschafften oder modernisierten. Hamburg wiederum profitierte geschickt auch vom Aderlass anderer, im Abstieg begriffener Metropolen, etwa durch ein fortschrittliches Einwanderungsrecht. Religionsflüchtlinge wie die jüdischen Immigranten aus Spanien und Portugal bescherten Hamburg über Jahrhunderte einen Zustrom an Handels- und Handwerkswissen, ebenso die Aufnahme von Migranten aus England oder den Niederlanden.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete sich in Hamburg ein wirtschaftliches Fundament heraus, das die Stadt bis heute mitträgt. Hamburger Reedereien und Hamburger Kaufmannshäuser erlangten Weltrang. Der Schiffbau erlebte einen rasanten Aufschwung und blieb bis in die 1970er-Jahre hinein die wichtigste Industriebranche in der Stadt. 1962 gab es in Hamburg insgesamt 17 größere und kleinere Werften.

In wirtschaftlicher Hinsicht weist das 19. Jahrhundert viele Parallelen zur Gegenwart auf. Das Jahr 1857 datiert Wolfgang Michalski als das Jahr "der ersten globalen Wirtschafts- und Finanzkrise". Vor dem Hintergrund einer hohen Staatsverschuldung in den USA platzten in jenem Jahr Spekulationsgeschäfte einer großen amerikanischen Versicherung mit Eisenbahn-Investitionen. Die Folgen erfassten schnell die gesamte Weltwirtschaft. In Deutschland litt darunter besonders Hamburg als wichtigstes Handelszentrum. Die Krise breitete sich rund um die Welt aus, weil Unternehmen und Märkte über die Grenzen von Kontinenten hinweg damals bereits eng verflochten waren und wurden.

Hamburg aber bewahrte seinen Status auch im 20. Jahrhundert, das die beiden schlimmsten Kriege der Weltgeschichte hervorbrachte. Trotz der Zerstörung der deutschen Handelsflotten in beiden Weltkriegen, trotz der Zerstörung Hamburgs im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs, und trotz 45 Jahren deutscher Teilung. "Hamburg ist heute", sagt Michalski, "die größte Stadt in Europa, die nicht zugleich Hauptstadt ist." Botschafter beschäftigt Hamburg gleichwohl, auch Michalski ist ein "Hamburg Ambassador", einer jener hoch angesehenen Bürger, die im Ausland auf Bitten des Senats ehrenamtlich die Interessen der Hansestadt vertreten - Handelsinteressen zumeist. Seine zahlreichen Verbindungen kann Michalski, der abwechselnd in Paris und in Hamburg lebt, zum Beispiel nutzbringend einsetzen, wenn es darum geht, wirtschaftspolitische Entwicklungen international zu sondieren.

Hamburgs Erfolgsgeschichte, das ist sein Fazit, dürfte sich fortsetzen. Die Luftfahrtindustrie hat den Schiffbau als wichtigste Industriebranche der Region abgelöst. Dank Airbus und seiner Zulieferer ist Hamburg einer der drei wichtigsten Orte für den zivilen Flugzeugbau weltweit. Trotz Wirtschaftskrise bleibt Hamburg Deutschlands Metropole für die gedruckte Presse. Und der Hafen ist - Rezession hin oder her - nach wie vor die wichtigste Im- und Exportverbindung Europas nach Asien. Hinzu kommen Unternehmen von Weltrang, die nicht zu den zentralen Hamburger Branchen gehören, etwa der weltgrößte Versandhandelskonzern Otto, der Schreibgerätehersteller Montblanc oder der Chemikalienhändler Helm.

"Hamburg", sagt Wolfgang Michalski, "ist ein ständiger Gewinner der Globalisierung. Mit kluger Wirtschaftspolitik, mit der Förderung zukunftsträchtiger Branchen wie der Medizintechnik oder der Biotechnologie kann die Stadt auf der Gewinnerseite bleiben." Auch, wenn es an diesem grauen Vormittag mit Blick auf die Elbe ganz und gar nicht nach Glanz und Gloria aussieht.