Im November und Dezember 2006 machte der Mord an dem russischen Doppelagenten Alexander Litwinenko weltweit Schlagzeilen. Erstmals wurden jetzt Details der Ermittlungen in London, Moskau und Hamburg bekannt. Die überraschende Wende: Der bisher als Täter verdächtigte Dmitri Kowtun könnte ebenso gut auch Opfer gewesen sein.

Vor drei Jahren hielt die Welt den Atem an. Der heimtückische Mord am russischen Geheimagenten Alexander Litwinenko in der britischen Hauptstadt London verfügte über sämtliche Zutaten eines Spionagethrillers. Der Verdacht reichte vom langen Arm des früheren KGB bis zur Russen-Mafia. Wer letztlich das radioaktive Schwermetall Polonium-210 nach London schaffte und Litwinenko ums Leben brachte, ist bis zum heutigen Tag ungeklärt. Eine Giftspur führte nach Hamburg.

Während der Hauptverdächtige Andrej Lugowoi als Mitglied des russischen Parlaments Duma unbehelligt in Moskau lebt und nicht an Großbritannien ausgeliefert wird, stellte die Hamburger Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den viele Jahre in der Hansestadt ansässigen Dmitri Kowtun im vergangenen Monat ein.

Dem Hamburger Abendblatt liegen die umfangreichen Akten dieses Polonium-Komplotts vor. Sie geben einen kleinen Einblick in eine komplizierte Fahndung voller Widersprüche und Geheimnisse. Auszüge dokumentieren verworrene Drähte zwischen Moskau, London - und der Hansestadt Hamburg.

Die Akte Hamburg

Unter dem Aktenzeichen 7101 Js 886/06 fasst die Staatsanwaltschaft der Hansestadt Hamburg am 6. November 2009 das Ergebnis ihrer Untersuchungen in Sachen Dmitri Kowtun so zusammen: "Die in Hamburg durchgeführten Ermittlungen haben - auch in Verbindung mit den aus Großbritannien und Russland mitgeteilten Ermittlungsergebnissen - keinen hinreichenden Tatverdacht gegen den Beschuldigten ergeben." Basis ist ein Aktenberg aus 36 Ordnern und mehr als 7000 Seiten. Die Behörden haben ganze Arbeit geleistet.

Mithilfe umfangreicher Vernehmungsprotokolle der Generalstaatsanwaltschaft in Moskau wurden zwei London-Reisen Kowtuns im entscheidenden Herbst 2006 penibel rekonstruiert. Eine Zusammenfassung:

London-Reise 16. Oktober 2009

Kowtun und der Mitverdächtige Lugowoi, beide kennen einander seit 30 Jahren und sind Freunde, fliegen nach England und treffen noch am selben Tag in den Räumen der Firma "Erinys" mit dem wenig später ermordeten Litwinenko zusammen.

Die Hamburger Fahnder haben notiert: "Das Gespräch dauerte etwa eine Stunde, wobei es um Partner für Erinys ging, die die Interessen der Firma auf dem Gebiet der Russischen Föderation vertreten sollten. (...) Wäre es zu einem Abschluss gekommen, hätte Litwinenko ein Vermittlungshonorar erhalten. Nach den Verhandlungen nahmen Lugowoi, Kowtun und Litwinenko zu dritt einen Imbiss in der Sushi-Bar Itsu im Hotel Ritz ein, wobei Litwinenko vor dem Essen über Magenprobleme geklagt haben soll."

Am folgenden Tag meldete sich Litwinenko mehrfach telefonisch bei Lugowoi, worauf man sich zu einem weiteren Treffen in den Räumen der Firma Risk Management verabredete. Anschließend begaben sich Litwinenko, Lugowoi und Kowtun zum Abendessen in einem Lokal in Chinatown. Während der Mahlzeit verließ Kowtun die beiden anderen Männer, da Litwinenko allein mit Lugowoi sprechen wollte.

Am Tag darauf flogen Kowtun und Lugowoi in einem Flugzeug der Gesellschaft Tansaero zurück nach Moskau.

London-Reise 1. November 2009

Am 31. Oktober flog Lugowoi mit seiner Frau, seinen Kindern sowie seinem Geschäftspartner Sokolenko erneut nach London. Weiter steht in der Akte: "Dort wollte sich Litwinenko ein Fußballspiel von ZSKA Moskau ansehen und mit seinen Kindern, die London noch nicht kannten, eine Stadtrundfahrt unternehmen. Die Reisenden nahmen im Millennium Hotel Quartier. Am 1. November stieß der Beschuldigte Kowtun - mit einem Flugzeug der Germanwings aus Hamburg kommend - zur Reisegruppe hinzu."

Zwischenstation Hamburg

"Der Beschuldigte war am 28. Oktober 2006 mit einem Flugzeug der Aeroflot nach Hamburg gekommen. Hier hatte er sich bis zum 1. November aufgehalten und seine geschiedene Frau (...), deren Mutter (...) sowie weitere Bekannte getroffen und bei diesen übernachtet, einige Einkäufe getätigt und das Ausländeramt im Bezirksamt Hamburg-Altona aufgesucht, um dort seine Aufenthaltserlaubnis verlängern zu lassen. Angesichts der in Hamburg an verschiedenen Aufenthaltsorten des Beschuldigten festgestellten Kontaminationen steht fest, dass Kowtun zu diesem Zeitpunkt bereits mit Polonium-210 in Berührung gekommen war."

Die Hamburger Staatsanwaltschaft reichert diese Recherche mit zahlreichen Vernehmungs-Mitschriften, Dokumenten, Zeugenaussagen, aber auch Auswertungen diverser Telefonprotokolle an. Die offiziellen Genehmigungen für diese Maßnahmen sind akkurat abgeheftet. Dies betrifft auch sämtliche Erkenntnisse im Zusammenhang mit den später an der Erzbergerstraße zu Ottensen und anderswo gefundenen Poloniumspuren. Sogar ein von Kowtun ausgefüllter Vordruck in der Ausländerakte war radioaktiv verseucht.

Die Akte London

Während die Fahnder in Moskau exzellent mit den Kollegen in Hamburg kooperierten und im Juli 2007 sogar zu einer Gesprächsrunde in die Hansestadt flogen, hielten sich die Partner in London diskret zurück.

Dazu wurde in Hamburg aktenkundig vermerkt: "Seitens der britischen Ermittlungsbehörden wurden aus rechtlichen Gründen mit Rücksicht auf das dortige Jury-System keine verwertbaren Erkenntnisse über die dort getätigten Ermittlungen mitgeteilt."

Dagegen richtete die Generalstaatsanwaltschaft in London ein Rechtshilfegesuch an die Amtskollegen in Hamburg. Grundlage eines entsprechenden Schreibens des Juristen S. J. Hemming vom 27. März 2007 aus der Abteilung Terrorismusbekämpfung war ein Strafermittlungsverfahren der Metropolitan Police von Scotland Yard.

"Dieses Verfahren", so übermittelten die Briten, "betrifft die Ermordung des Alexander Litwinenko. Sein Ableben wurde am 23. November 2006 um 21.21 Uhr im University College in London festgestellt. Als Todesursache ist akutes Strahlungssyndrom vermerkt."

Die Briten rekonstruieren den Tathergang so:

"Am 1. November 2006 begab sich Litwinenko von seiner Wohnung aus zu einem Treffen mit Mario Scaramella. Scaramella ist ein italienischer Geschäftsmann mit russischen Kontakten und war ein Bekannter Litwinenkos. Das Treffen fand um 15 Uhr im Restaurant Itsu in Picadilly in London statt. Litwinenko nahm eine Sushi-Mahlzeit zu sich, und nach dem Treffen verließen Scaramella und Litwinenko die Räumlichkeiten gegen 15.40 Uhr.

Kurze Zeit darauf, gegen 15.55 Uhr, begab sich Litwinenko zum Millennium-Hotel am Grosvenor Square, London, wo er sich mit zwei russischen Geschäftspartnern traf: Andrej Konstantinowitsch Lugowoi und Dmitri Wadimowitsch Kowtun.

Hierbei handelte es sich um eine zuvor verabredete Zusammenkunft, und alle nahmen Erfrischungsgetränke zu sich. Litwinenko trank grünen Tee aus einer Teekanne, den Lugowoi bereits vor Litwinenkos Ankunft bestellt hatte. Im weiteren Verlauf des Treffens stießen später noch (...) Lugowois Ehefrau Swetlana und Sohn Igor hinzu.

Nach der Besprechung ging Litwinenko nach Hause und aß dort zusammen mit seiner Ehefrau. Später am Abend klagte er über starkes Unwohlsein. Am 3. November wurde er in ein Krankenhaus eingewiesen. Am 16. November wurde die Londoner Polizei verständigt, da der Verdacht einer Vergiftung aufkam. Am Donnerstag, 23. November 2006, wurde festgestellt, dass in Litwinenkos Körper radioaktives Polonium-210 vorhanden war. Später am Abend verstarb Litwinenko im Krankenhaus. Aufgrund der Art der Krankheit und der heiklen Todesumstände wurde am 1. Dezember 2006 eine speziell angeordnete Autopsie durchgeführt."

Weiter schrieben die britischen Cheffahnder von Scotland Yard nach Hamburg: "Im Zuge der Ermittlungen wurden an mehreren Stellen in London Spuren von Polonium-210 festgestellt: insbesondere die Hotelzimmer, die Lugowoi und Kowtun bei einem Aufenthalt in London vom 16. bis 18. Oktober ... sowie die beiden Zimmer, die Lugowoi und Kowtun vom 31. Oktober bis 3. November 2006 im Millennium-Hotel belegt hatten.

Darüber hinaus ist die Pine Bar im Hotel, wo das Treffen mit Litwinenko stattfand, stark kontaminiert und bleibt weiterhin geschlossen. Auch eine Reihe von anderen Örtlichkeiten in London, die von Lugowoi und Kowtun frequentiert worden sind, darunter das Restaurant Itsu, sind ... verseucht. In drei Flugzeugen wurden Spuren von Alphastrahlung entdeckt. Mehrere Hundert Personen in Großbritannien wurden untersucht, um festzustellen, ob sie mit Polonium-210 verstrahlt sind."

Im Gegenzug übermittelten die Hamburger Ermittler ihre Erkenntnisse an das Home Office der britischen Ermittler an der Marsham Street in London: "Nachdem durch Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes in der Wohnung (Erzbergerstraße in Ottensen, d. Red.) an zwei Stellen radioaktive Strahlung - Alphastrahlung - festgestellt wurde, wurde die Wohnung zur Durchführung weiterer Maßnahmen beschlagnahmt, versiegelt und bewacht."

Zuvor hatte die Hamburger Staatsanwaltschaft in einem Eildienst vom 9. Dezember 2006 intern mitgeteilt: "In der heutigen Frühbesprechung des Führungsstabes erklärte der Vertreter des Bundesamtes für Strahlenschutz ..., dass aufgrund der gefundenen Spuren beziehungsweise der Art der Kontamination nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei Kowtun Poloniumspuren außerhalb des Körpers vorhanden gewesen seien. Die Spuren könnten daher rühren, dass er beim Verpacken oder Transport mit dem Stoff in Berührung gekommen und deshalb Restspuren an seiner Haut oder Kleidung vorhanden gewesen seien.

Grund für die Spuren könne aber auch sein, dass er engen Kontakt zu einer Person gehabt habe, die ihrerseits mit dem Polonium in Berührung gekommen sei."

Fazit der britischen Ermittler: "Unter Berücksichtigung dieser bisherigen Ermittlungserkenntnisse ist von einem Anfangsverdacht gegen Kowtun ... auszugehen."

Die Akte Moskau

Die Hamburger ebenso wie die London Ermittler standen vor einem großen Problem: Die Hauptverdächtigen, Lugowoi und Kowtun, hielten sich längst wieder in ihrer Heimat auf. Und russische Gesetze verbieten die Auslieferung ihrer Staatsbürger in andere Länder. Hinzu kommt Lugowois politisches Engagement. Dmitri Kowtun selbst wäre zu einem Flug nach Hamburg bereit gewesen, allerdings riet ihm sein Hamburger Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Vehlow davon ab. Er forderte freies Geleit für seinen Mandanten.

Folglich wurden Lugowoi und Kowtun von der Staatsanwaltschaft in Moskau vernommen. Auch diese Vernehmungsprotokolle liegen dem Hamburger Abendblatt vor.

Vernehmung Lugowoi 11. Dezember 2006, 14.50 bis 16.26 Uhr

Im Krankenhaus Nr. 6 der Medizinisch-Biologischen Föderationsagentur, Block 2, Zimmer 8 wird Lugowoi vernommen. Neben den russischen Fahndern sind der Chefarzt sowie Detective Sergeant Alan Slayter (Scotland Yard, Abteilung Terrorismusbekämpfung) vor Ort. Ein Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll:

Lugowoi: " Am 2. November gegen 7.30 Uhr rief mich Litwinenko an und sagte, dass er zu dem Treffen um 10 Uhr nicht kommen könne, da er sich schlecht fühle. Ich fragte ihn, was passiert sei. Er sagte, dass ihm gestern Abend nach dem Essen schlecht geworden sei, bei ihm drehe sich alles. Er habe wohl etwas Scharfes gegessen und habe Probleme mit der Milz. Dabei gab er nicht an, wo er am Vorabend gegessen habe und was er gegessen habe."

Vernehmung Kowtun 5. Dezember 2006, 21.20 Uhr, bis 6. Dezember, 17.10 Uhr (mit Unterbrechungen) sowie 17./18. Dezember

Ebenfalls im Krankenhaus Nr. 6 der Medizinisch-Biologischen Föderationsagentur, Block 2, Zimmer 8 wird Kowtun vernommen. Neben den russischen Fahndern sind der Chefarzt sowie Detective Sergeant Oliver Gudny (Scotland Yard, Abteilung Terrorismusbekämpfung) vor Ort.

Auszüge aus dem Vernehmungsprotokoll:

Frage: Was haben Sie während des Treffens mit Litwinenko im Pub gegessen oder getrunken?

Kowtun: Niemand von uns dreien hat etwas gegessen. Ich und Lugowoi haben lediglich Gin, Whiskey und Tee getrunken.

Frage: Welche Treffen hatten Sie noch mit Litwinenko?

Kowtun: Treffen mit Litwinenko hatte es lediglich davor gegeben, am 16. und 17. Oktober 2006. Erörtert wurden geschäftliche Fragen.

Frage: Wer war mit Ihnen im Restaurant Itsu?

Kowtun: Zusammen mit mir waren Andrej Lugowoi und Alexander Litwinenko. Was wir gegessen und getrunken haben, weiß ich nicht mehr. Etwas Japanisches. Wir saßen im Aufenthaltsraum.

Frage: Fühlten Sie ein Unwohlsein, als Sie in London waren?

Kowtun: Ich spürte eine Müdigkeit und Schwäche, brachte das jedoch damit in Zusammenhang, dass ich früh um 4 Uhr morgens in Hamburg aufgestanden war. Ich mache mir Sorgen um meine Gesundheit.

Frage: Gestatten Sie, dass die Londoner Polizei Kopien Ihrer Krankenakte erhält?

Kowtun: Ich brauche sämtliche medizinische Unterlagen, um mich einer weiteren Behandlung zu unterziehen. So lange werde ich niemandem Kopien geben.

Das Telefonat

Soweit die Aktenlage des internationalen Krimis: Das Abendblatt telefonierte am 26. November 2009 im Zuge der Recherche für dieses Dossier mit Dmitri Kowtun in Moskau. Der Russe reagierte erfreut und erkundigte sich in gebrochenem Deutsch nach der aktuellen Entwicklung in der Hansestadt. Speziell interessierten ihn Nachrichten aus seinem alten Heimatstadtteil Altona.

Hamburger Abendblatt:

Hallo, Herr Kowtun, wie geht's Ihnen?

Kowtun:

Bestens, herzlichen Dank. Stehe allerdings gerade in Moskau im Stau, ganz fürchterlich.

Abendblatt:

Und wie geht's Herrn Lugowoi?

Kowtun:

Auch sehr gut. Wir sind beide gesund und munter. Die Geschäfte laufen.

Abendblatt:

Laufen auch die Ermittlungen noch?

Kowtun:

Ja, unvermindert. Auch in der Presse hier wird viel über den Polonium-Fall geschrieben.

Abendblatt:

Warum ermittelt die Moskauer Staatsanwaltschaft gegen unbekannt?

Kowtun:

Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass es so ist.

Abendblatt:

Demnach besteht der Verdacht, dass neben Litwinenko auch Lugowoi und Sie Opfer des Polonium-Komplotts sein sollten.

Kowtun:

Ich habe auch davon gehört. Aber ich glaube nicht, dass mich jemand umbringen wollte.

Abendblatt:

Wann kommen Sie nach Hamburg? Das Ermittlungsverfahren ist eingestellt. Und eine Auslieferung nach England droht nicht mehr.

Kowtun:

Ich habe große Sehnsucht nach Hamburg, ich habe ja zehn Jahre dort gelebt. Sobald mein Reisepass verlängert ist, buche ich einen Flug. Es gibt eine Menge mit meinem Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Vehlow zu besprechen.