Mehr als zwei Jahre nach dem schweren Erdbeben herrscht in Haiti noch immer keine Normalität. Hamburger Spenden sollen ein Waisenhaus aufbauen.

Port-au-Prince. Der Parc Industrielle an der Route de Tabarre ist eine Oase der Ruhe und des Friedens. Denn er beherbergt nicht, wie der Name vielleicht nahelegt, ein Gewerbegebiet, sondern ein Museum des Zuckeranbaus auf Haiti. Die süßen Kristalle haben die Inselrepublik einst wohlhabend gemacht. Lange ist es her. Heute sind die Relikte einstiger Prosperität in einer gepflegten tropischen Grünanlage zu besichtigen: eine alte ramponierte Dampflok gleich am Eingang, eine Zuckerrohrpresse im Garten, Zeugnisse der Lebenskultur der Plantagenbesitzer im Inneren des Hauptgebäudes. Und ein kleines Restaurant gibt es, in dem Diplomaten, Entwicklungshelfer oder Uno-Blauhelme gern einen Kaffee trinken, eine Kleinigkeit essen und Gespräche führen. Hier ist es sicher, und hier ist man unter sich.

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Jenseits der hohen Umfassungsmauer tobt der ganz normale Wahnsinn von Port-au-Prince. Die weißen Toyota-Landcruiser der Uno, die Geländewagen anderer Ausländer und wohlhabender Einheimischer kreieren zusammen mit allgegenwärtigen Militärtransportern der Blauhelme, kunterbunt bemalten Kleinbussen, Zehntausenden Autos - meist ohne Nummernschilder - und vorwiegend aus chinesischer Produktion stammenden Motorrädern ein lärmendes Verkehrsinferno. Der meist erbärmliche Zustand der Fahrbahnen trägt seinen Teil zum Chaos bei. Fast überall säumen Straßenhändler die Szenerie. Man versucht, sich gegenseitig Mangos oder Bananen zu verkaufen. Unter der Tropensonne und gelegentlichen Regengüssen verwandeln sich die Abfälle in Schlamm und faulige Aromen. Die Ernte europäischer Altkleider- und Schuhsammlungen füllt Verschläge und Markthallen, uralte Computer, Reifen und Gerätschaften aller Art werden feilgeboten. Viel mehr Arbeit gibt es nicht in der Metropole.

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Auch die Aufbaubemühungen der großen Hilfsorganisationen scheinen ins Stocken geraten zu sein. Zwar wurden viele Trümmer in Hafennähe zusammengekarrt und die Hauptstraßen einigermaßen befahrbar gemacht. Doch schon im Anflug auf die Stadt ist die große Zahl an Ruinen und Baulücken nicht zu übersehen, fällt der Mangel an Neubauten und Unternehmen auf - abgesehen von ein paar Tankstellen, Autohäusern und den Kasernen der Uno-Truppen.

Ihren einheimischen Hilfskräften haben sie jetzt verschiedenfarbige T-Shirts angezogen und Aufräumtrupps für die Straßen formiert. Große Teile der Stadt liegen noch immer in Trümmern, auch die Kathedrale, einst der Stolz der katholischen Bevölkerung. Der Präsidentenpalast dämmert mit eingestürzten Flügeltürmen und gewaltigen Rissen im Gemäuer unverändert in seinem umzäunten Park vor sich hin, noch genau so, wie ihn das große Erdbeben vom 12. Januar 2010 zugerichtet hat. Einige der Notunterkünfte aus Zelten und Plastikplanen in der unmittelbaren Umgebung sind inzwischen geräumt. Noch immer aber leben Zehntausende unter diesen unwürdigen Bedingungen. Meist sind es Menschen aus der zerstörten Umgebung, die nach dem großen Beben in die Hauptstadt geströmt sind, um überhaupt an irgendwelche Hilfsleistungen zu kommen.

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Auch Johnny Fleurvil, 29, der bei dem Beben Eltern, Bruder und Haus verloren hatte, hat bis vor wenigen Wochen mit seiner Frau und der einjährigen Tochter Kerline in einem der Zelt-Slums gehaust. "Es war schrecklich", sagt er. "Unsere Kleine war ständig krank. Ich bin so froh, dass wir jetzt wieder in einem richtigen Haus wohnen können", sagt der junge Mann, der an der Universität der Hauptstadt Englisch studiert hat und sich als Dolmetscher durchschlägt. Ja, die vielen ausländischen Soldaten haben die Stadt sicherer gemacht - obwohl sich mittlerweile viele Haitianer durch die Anwesenheit der fremden Truppen auch in ihrem Stolz verletzt sehen. Schließlich waren sie die ersten Sklaven, die sich 1804 selbst befreit und nach den USA den zweiten unabhängigen Staat Amerikas gegründet hatten. An seiner Regierung findet Johnny noch weniger Gutes. "Die kümmert sich nicht um uns. Die sind doch nur damit beschäftigt, Hilfsgelder zu veruntreuen und sich in Florida ein luxuriöses Leben zu organisieren", ist er überzeugt.

Ganz falsch wird er mit dieser Ansicht nicht liegen. Staatspräsident Michel Martelly hat bei seinem Amtsantritt vor einem Jahr selbst den massiven Missbrauch der internationalen Hilfsgelder beklagt. "Ich habe heute als Haitis Staatspräsident ein Problem: Ich kann kein einziges Projekt identifizieren. Ich weiß nicht, was man mit den vier Milliarden Dollar gemacht hat", sagte Martelly, der sich zuvor als Schlagersänger "Sweet Micky" einen Namen gemacht hatte, damals. Es gebe "keine Regierung, keinen Etat, keine Institutionen", mit denen er das Land regieren könne. "Vielleicht haben einige Leute das Geld einfach benutzt, um gepanzerte Autos oder andere Sachen, die nicht wirklich notwendig waren, zu importieren", mutmaßte er - und gelobte Besserung. Immerhin: Ganz so tatenlos, wie Johnny und manch andere vermuten, war Martelly nicht. Er hat zumindest dafür gesorgt, dass wieder mehr Kinder in Haiti zur Schule gehen. Noch immer kann die Hälfte der Bevölkerung nicht lesen und schreiben. Aber ohne Bildung wird das Land erst recht keine Zukunft haben. In Kinder und Bildung zu investieren kann also nicht der schlechteste Versuch sein, dem gebeutelten Land auf die Beine zu helfen, haben sich auch die Leute vom Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) Hamburg-Mitte gedacht, die schon viele Hilfsprojekte in Katastrophen- und Bürgerkriegsregionen realisiert haben. "Wir haben nach etwas Überschaubarem gesucht, das unseren Möglichkeiten entspricht", sagt Rais Kabanov, Projektleiter des ASB.

+++ Erdbebenopfer bekommen Hilfe auf das Handy +++

Ein Vertreter des ASB-Bundesverbandes, der bereits kurz nach dem Beben in Haiti stationiert war, hat ihnen Marie-Solange Joissaint empfohlen. In der Stadt Petit Goave, etwa 80 Kilometer westlich von Port-au-Prince, kümmert sie sich bereits seit 15 Jahren um Waisenkinder und organisiert Schulunterricht. "Mein Vater wurde unter der Duvalier-Diktatur verfolgt. Schließlich sind wir nach Frankreich gegangen. Dort habe ich gesehen, welche Chancen Kindern haben können, und beschlossen, etwas für meine Heimat zu tun, und den Verein Enfants dans le desert d'Haiti (Kinder in der Wüste von Haiti) gegründet", berichtet die 56-Jährige. Waisen und Straßenkinder aus Port-au-Prince hat sie nach Petit Goave geholt und sich um die Ärmsten vor Ort gekümmert.

Leicht war diese Arbeit nie, denn Armut, Korruption und Unfähigkeit der Regierenden sind kein neues Phänomen in Haiti, aber das Beben hat sie vorübergehend fast unmöglich gemacht. Die verschiedenen Gebäude, die für den Unterricht und als Unterkunft genutzt wurden, sind stark beschädigt und unbrauchbar geworden. Niemand, vor allem nicht die Kinder, die noch immer vom Beben traumatisiert sind, wollen die Häuser betreten. Schule findet derzeit in einem benachbarten Rohbau statt. Eine der allgegenwärtigen blauen Plastikplanen der Unicef ersetzt das gegen Regen und Sonne schützende Dach. Gekocht wird in einem Winkel weiter hinten. Heute gibt es Reis und für jeden eine kleine Scheibe gebratener Wurst. Wenigstens drei Jahre sollen die Kinder hier lernen - Lesen, Schreiben, Rechnen. Noch lieber singen und tanzen sie.

Einen Neuanfang hat Madam Solange im Vorort Acul geplant. Hier, etwas außerhalb der quirligen Provinzstadt, hat sie von den Eltern ein Grundstück geerbt, etwa einen halben Hektar groß, nicht weit vom Strand, im Hinterland Wiesen und Felder, am Horizont die entwaldeten Berge. Es gibt nur eine Straße, an der sich links und rechts Häuser und kleine Geschäfte reihen. Wie überall im Land suchen sich Hühner, Schweine und Ziegen ihre Nahrung in den Abfällen. Hier sollen alle ihre 100 Kinder zur Schule gehen und die Waisen unter ihnen auch übernachten können. "Als ich das Gelände vor einem Jahr das erste Mal gesehen habe, war es kniehoch mit Gestrüpp bewachsen und sumpfig", erinnert sich Kabanov. Eine Mauer und ein sicheres Tor, Grundvoraussetzung für jede Unternehmung im Lande, wenn sie nicht sukzessive in fremde Hände übergehen soll, fehlten. Der ASB hat auf die Gründung einer Stiftung und Eintragung ins Grundbuch gedrungen, damit das Gelände nicht anders genutzt werden kann. Und Geld soll immer erst fließen, wenn konkrete Fortschritte zu sehen sind. Deshalb ist diesmal Gerhard Gries mit von der Partie, der Vorsitzende der Kontrollkommission des ASB Hamburg-Mitte. Er kann notieren, dass die Mauer steht und gerade verputzt wird, ein solides Eisentor installiert wurde, das Gelände vom Gestrüpp befreit und zum größten Teil mit Kies und Erde aufgeschüttet wurde. In einer Ecke steht bereits ein kleines Wirtschaftsgebäude für die Küche für Waschgelegenheiten. Die zuvor veranschlagten 20 000 Euro können fließen.

"Dieses Projekt ist nicht gerade einfach", berichtet Kabanov. "Unser Bundesverband wollte hier nach deutschen Normen bauen, Rechnungen, Pläne und Verträge sehen. Aber so geht das hier nicht." Eine Verwaltung nach europäischem Verständnis findet nicht statt. Eine Mauer wird nicht nach Quadratmetern, sondern nach der Anzahl von Hohlblocksteinen berechnet. Wenn Geld da ist, wird Material bestellt, werden Arbeiter aus der Nachbarschaft angeheuert, und ein Bauleiter überwacht dann das Geschehen. Tatkräftig assistiert von Madame Joissaint. Immer wieder greift sie ein in das Baugeschehen, sagt den Arbeitern, was zu tun ist, wird laut, gestikuliert wild. Das entspricht ihrem karibischen Temperament. Anders scheint es aber auch nicht zu funktionieren. Zumal es in Haiti alles andere als üblich ist, dass eine Frau die Geschäfte führt und Männern Anweisungen erteilt. Da ist Durchsetzungskraft gefragt. Und die hat sie.

Auch am Abend, als es zur Feier des vollendeten Bauabschnitts und der Kooperation mit den deutschen Helfern eine Feier auf dem Baugelände gibt. Zwei Kapellen spielen auf, bunte Fähnchen und Transparente flattern im lauen Abendwind. Es gibt etwas zu essen und Getränke. Die örtlichen Polizeikommandanten sind gekommen und beklagen, dass sie für 40 000 Einwohner nur 40 Männer zur Verfügung haben. Aber heute Abend hat das Verbrechen auch für sie eine Pause.

Cuto, neun Jahre alt und Waisenkind aus Port-au-Prince, genießt seine Cola. Gibson, 15, ebenfalls ohne Eltern ist seit sechs Monaten hier und hat vorher noch nie eine Schule gesehen. "Früher habe ich den ganzen Tag nur rumgehangen und nichts getan", sagt er. Sein neuer Plan ist, Arzt zu werden. Doubi, 16, träumt von einer Zukunft als Bauingenieur. Alle sind sehr in sich gekehrt, wollen nicht viel reden, antworten nur zögernd und dann so knapp wie möglich auf Fragen. Ihr Weg ist noch lang und ungewiss, aber sie haben jetzt immerhin eine Vorstellung, wohin er führen könnte.

Der Fortschritt ist langsam in Haiti, geht meist verschlungene Pfade. Aber er ist möglich. Zumindest im Kleinen.

Der ASB bittet um Spenden für das Waisenhaus, Kontonummer 0054545400 bei der Commerzbank Hamburg, Bankleitzahl 200 800 00.