Im Pflegeheim Tabea “Unter Freunden“ in Lurup lebt eine Wohngruppe mit Migrationshintergrund. Obwohl Bedarf wächst, sind Angebote rar.

Hamburg. Ashe Özgür* ist leise. Und langsam. Tippelschritt für Tippelschritt läuft die 74-jährige Türkin den ganzen Tag im Altenheim Tabea "Unter Freunden" in Lurup umher. Mal taucht sie im Aufenthaltsraum auf, dann auf dem Flur. Wortlos, freundlich, stets den Blick nach unten gerichtet. Dann und wann begegnet sie einer Pflegerin. Meist wird sie in den Arm genommen oder kurz gestreichelt. Dann lächelt Ashe Özgür - und geht weiter.

Das weiße Gebäude, das dem diakonischen Altenheim als Herberge dient, steht in Hamburgs Westen. Gegenüber liegt ein Fabrikgebäude von Hermes Schleifmittel. Der laute Verkehr auf der Luruper Hauptstraße fließt und stockt im Takt nahe gelegener Ampeln. Im Heimgebäude ist es wohltuend ruhig. Im hinteren Teil, da, wo die meisten der 94 betagten Bewohnerinnen und Bewohner leben, ist das laute Draußen kaum zu hören.

Die Türkei liegt im fünften Stock. Beim Eintritt in den Gemeinschaftsraum fällt der Blick auf die an die Wand gepinnte Fotografie. Sie zeigt den Begründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk. Aus einem altersschwachen Radio tönt orientalische Musik. Auf einer Tafel steht auf Türkisch geschrieben die "Weisheit des Tages": "Eine schwarze Kuh gibt weiße Milch."

Pflegedienstleiterin Nazife Güneyli Tokuc macht nicht viel Aufhebens und spricht von Wohngruppe fünf. Dabei ist das Angebot für die sieben Frauen und fünf Männer muslimischer Herkunft, die in der vor drei Jahren eingerichteten Wohngruppe leben, etwas Besonderes in Hamburgs Pflegeheimlandschaft. Während ambulante Pflegedienste bereits seit Längerem um ältere Menschen mit Migrationshintergrund werben, gilt die stationäre Pflege für Migranten noch als Ausnahme.

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Und das, obwohl der Bedarf innerhalb weniger Jahre sprunghaft gestiegen ist. Dem Melderegister zufolge leben in Hamburg derzeit rund 45 000 Migranten, die älter als 65 Jahre sind. Das sind rund 13 Prozent der in der Hansestadt lebenden Rentner. Den größten Anteil an den älteren Migranten haben mit 18 Prozent die Türken. Viele von ihnen kamen in den 60er-Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland.

Sabr Uludere ist einer von ihnen. 1963 kam er nach Hamburg und arbeitete fortan im Schiffbau. Heute spricht er nur noch mühsam und leise. Auf einem kleinen Tischchen in seinem Zimmer stehen zwei Fotos, die eine lachende junge Frau zeigen. "Meine Frau", sagt er zärtlich. Der 89-Jährige hat keine Verwandten in Deutschland, und eine Reise in die alte Heimat lässt sein Gesundheitszustand nicht mehr zu.

Hamburg steht vor einer großen Herausforderung. Die ersten jungen Gastarbeiter sind in die Jahre gekommen. Ihr ursprünglicher Plan, zum Lebensabend in die Heimat zurückzukehren, hat sich für viele zerschlagen. Hier leben ihre Kinder, ihre Enkel, ihre Freunde. In der alten Heimat dagegen sind sie selbst zu Fremden geworden.

Der Bonner Arzt für Gerontopsychiatrie, Rolf-Dieter Hirsch, schreibt in einer Studie zur "Wohn- und Lebenssituation alter Migranten", der Gesundheitszustand älterer Migranten gelte allgemein als schlecht. Ein wichtiger Grund liegt in der "Kumulation von gesundheitlichen Belastungsfaktoren" wie Schicht- und harte körperliche Arbeit. Wie viele der einstigen Gastarbeiter in Hamburg pflegebedürftig sind, ist unklar. Die Gesundheitsbehörde geht von 4000 aus - mit steigender Tendenz.

Zudem gewinnt im Alter das Langzeitgedächtnis an Bedeutung. Prägungen aus der ersten Lebenshälfte und althergebrachte Vorstellungen könnten den "moderneren Lebensstil der jüngeren Vergangenheit" verdrängen, schreibt Hirsch.

Im Pflegeheim Tabea offenbart sich das in einer Zunahme von Sprachproblemen. "Viele Bewohner sprechen und verstehen bei ihrem Einzug Deutsch", sagt Claudia Päschel, die das Betreuungsteam der türkischen Wohngruppe leitet. "Aber je dementer sie werden, desto mehr vergessen sie die deutsche Sprache." Am Ende bleibe nur noch das Türkische zurück.

Zweisprachigkeit ist daher eine wichtige Anforderung an das Pflegepersonal, wenn "kultursensible Pflege", wie es im Amtsdeutsch heißt, erfolgreich sein soll. Eine Studie des Zentrums für Qualität in der Pflege ergab, "dass die Akzeptanz professioneller Pflegedienste davon abhängt, ob diese muttersprachlich" ausgerichtet sind. "Man muss sie nicht anders pflegen", sagt Nazife Güneyli Tokuc, "sondern man muss sie in ihrer Sprache pflegen."

Das Hauptproblem von Pflegeeinrichtungen, die Angebote für Migranten unterbreiten, besteht aber in Unkenntnis. Viele Familien sorgen sich: Gibt es einen Türkisch sprechenden Arzt? Werden muslimische Ernährungsgewohnheiten und religiöse Bedürfnisse berücksichtigt? Ohne Rücksicht auf Traditionen ginge gar nichts, sagt Claudia Päschel. "Beim Waschen lassen sich Männer nur von Männern helfen, während Frauen auf die Betreuung durch weibliche Pflegekräfte Wert legen."

Im Pflegeraum wird es plötzlich laut. "Allahu Akbar" ("Gott ist groß"), schallt es durch den Raum. Der weiße "Gebetswecker" erinnert Bewohner und Pflegekräfte daran, dass wieder Zeit für ein Gebet ist. Der eine oder andere zieht sich zurück. Zwei Räume bilden den speziellen in nüchternem Weiß gehaltenen Gebetsbereich. Auf dem Boden liegen drei Gebetsteppiche. Sabr Uludere hat sich auf einem Rollstuhl in den Raum schieben lassen. Er faltet seine Hände, versinkt im Gebet.

Wenig später ist Essenszeit. Es gibt Gemüseeintopf, Nudeln mit Tomatensoße und Zaziki. Das Essen wird von einem türkischen Restaurant geliefert; für die anderen Mahlzeiten wird in einem türkischen Laden um die Ecke eingekauft. "Unsere Heimbewohner essen schon morgens ganz gern etwas Herzhaftes: Schafskäse, Oliven oder kräftige Knoblauchwurst", sagt Päschel.

Wichtig ist natürlich, dass kein Schweinefleisch auf den Tisch kommt. Das geht so weit, dass beim Sommerfest zwei Grills benutzt werden. "Schwein und Rind auf einem Grill braten - das geht nicht", erzählt Claudia Päschel. Und es gibt keinen Alkohol, was bedeutet, dass selbst Schwarzwälder Kirschtorte keine Chance hat.

Es geht familiär zu in der fünften Etage. Jeder kann, keiner muss. Und doch: Trotz der umsorgten Atmosphäre wird in vielen türkischen Familien heftig darüber gestritten, ob Mutter oder Vater in einem Pflegeheim untergebracht werden sollten. "Viele Kinder bringen ihre Eltern erst dann, wenn sie es nicht mehr schaffen, sie zu Hause zu pflegen", sagt Nazife Güneyli Tokuc. Vom ersten Kontakt bis zum Einzug vergingen teilweise acht Monate. "Die Zeit benötigen viele, um mit ihrem schlechten Gewissen klarzukommen."

Auch bei jüngeren Türken gilt: Sie fühlen sich für die Betreuung ihrer Eltern im Alter verantwortlich. Im Freundeskreis werde Kindern daher oft vorgeworfen: "Du hast deine Mutter abgegeben? Du hast versagt!", sagt Tokuc. Mustafa Haruc - der Arzt betreut die Wohngruppe - spricht davon, dass es oft als "Schande" angesehen wird, wenn der Elternteil im Heim lebt.

Für viele junge türkischen Familien gibt es aber oft keinen anderen Ausweg. Töchter und Söhne sind berufstätig und haben kaum Zeit für die Betreuung der Eltern. Die Mutter von Yüksel Tinc lebt seit drei Jahren bei Tabea. "Wir sind vier Geschwister. Eine von uns hätte ihre Arbeit aufgeben müssen. Das ging nicht." Auch wenn Yüksel Tinc ihre Mutter in dem Heim gut aufgehoben sieht, Ruhe findet sie nicht. "Meine Mutter fühlt sich abgeschoben, das macht mir so zu schaffen."

Pflegeexperten wissen seit Jahren um diese familiäre Problematik. Ihre Hoffnungen ruhen auch auf den Geistlichen. "Oft gehen Kinder zum Imam und fragen: 'Sündige ich, wenn ich meinen Vater oder meine Mutter in einem Pflegeheim unterbringe?'", sagt Nazife Güneyli Tokuc. Und die Imame? Viele versuchen den Spagat. "Wenn die Pflege in einem Heim besser ist, dann ist es zum Wohle des Elternteils."

Und doch: Wenn es dann so weit ist, ist die Zerreißprobe für manche türkische Familie längst nicht vorbei. "Ich habe erlebt, dass einige Familien sich darüber zerstreiten", sagt Claudia Päschel. "Da gibt es noch hier im Heim heftige Diskussionen." Um Konflikte zu entschärfen, könnten die Kinder ihre Eltern jederzeit wieder nach Hause holen. "Das beruhigt sie", sagt Päschel.

Zudem werden Kinder und Enkel in die Pflege einbezogen. "Viele kommen und versorgen ihre Eltern, beispielsweise beim Waschen oder Ankleiden", sagt Päschel. Manchmal hilft das. Manchmal auch nicht. Und so ist auch Tabea hin und wieder ein Ort der Traurigkeit und der Einsamkeit, an dem die Sehnsucht nach der Heimat und die Erinnerungen an früher übergroß werden.

Der Bonner Arzt Rolf-Dieter Hirsch sieht in der wachsenden Zahl älterer Migranten eine Chance für die deutsche Gesellschaft. "Die Vielfältigkeit der Einflüsse zu nutzen, um manche verkrustete deutsche Vorstellungen vom Leben zu verringern, nützt unserer Gesellschaft mehr als starre Muster von Beziehungen", schreibt er in seiner Untersuchung und fügt hinzu: Jeder Mensch habe seine eigene Geschichte, bleibe unverwechselbar und einmalig.

Sabr Uludere sitzt wieder an seinem kleinen Tischchen und betrachtet das Bild seiner Frau. Er hat seine Ruhe wiedergefunden. Und Ashe Özgür dreht weiter ihre Runden. Schritt für Schritt, Stunde für Stunde, Tag für Tag.

*Name geändert

Multimediashow auf abendblatt.de/tabea