Die Schulzeit ist nicht nur eine ständige Prüfung für meinen Sohn, sondern auch für meine Nerven. Manche Dinge sind eine Frage der Entwicklung.

Hamburg. Die Schulzeit ist ein Reifeprozess für die Kinder. Dass er auch einer für die Eltern ist, habe ich erst lange nach der Einschulung meines Sohnes Moritz verstanden. Der erste Schultag ist der Beginn einer langen Abnabelungsphase, die viel mit Loslassen zu tun hat, und das fällt Eltern - oder ich sollte jetzt mal genauer "Müttern" sagen, denn Männer sind da ja oft anders - nicht ganz so leicht. Mein Sohn war mir jedenfalls auf dem Gebiet immer einen Schritt voraus. Schon im Kindergarten bestand er darauf, allein dorthin zu gehen. Nun gut, es sind nicht mehr als 200 Meter von Tür zu Tür, aber immerhin, eine Straße ist dazwischen.

Der Schulweg ist um einiges länger. Ausgerechnet Jurek, der nette jugendliche Sohn unserer Nachbarn, erwischte mich dabei, als ich wie ein alter Indianer, von Busch zu Busch hüpfend, hinter Moritz herschlich, um nachzusehen, ob er den Weg auch allein meistert. Ich handelte mir in meiner zugegeben etwas lächerlichen Position einen irritierten Blick des Nachbarn ein. Weil er ebenfalls Richtung Schule unterwegs war, versprach er mitleidig: "Keine Angst, ich passe auf ihn auf."

"Stell dir vor, Jurek ist heute mit mir zur Schule gegangen", erzählte mein Sohn mittags ganz stolz, und ich brachte ein erstauntes "Ach toll!" heraus. Das war nicht einmal völlig vorgetäuscht. Denn dass er von allein etwas von seinem Morgen erzählte, war - und ist bis heute - wirklich erstaunlich. Schulkinder haben nämlich einen Trumpf in der Hand: Ihre morgendlichen Schulstunden sind ihr Geheimnis. Sie selbst entscheiden, was und vor allem wie sie davon erzählen.

Irgendwie kommt zwar doch immer alles raus, aber erst viel später. Wie steht man da, wenn nachmittags die Mutter eines Schulfreundes anruft und gleich mit der Frage: "Was hältst du denn von der Sache?" beginnt. Dramen spielen sich ab, und ich habe keine Ahnung davon. Erzählt er mir heute nicht, dass sie Gänseblümchen im Sachkundeunterricht gepflückt haben, dann wird er mir später auch nicht seinen ersten Joint beichten. Der Schluss liegt doch nahe, oder?

Ihre Geheimnisse bewahren Schulkinder in ihrer neuen Tasche, die Ranzen heißt. Nur unter Missachtung des grundgesetzlich geschützten Briefgeheimnisses lässt sich dort herankommen. Oder mit vorgeschobenen Gründen: Lass mal sehen, muss ich einen Zettel unterschreiben? Klebt das Pausenbrot von gestern noch zwischen Mathe- und Deutschbuch? Ist deine Mütze vielleicht noch im Ranzen? Tatsächlich aber geht es natürlich nur darum zu kontrollieren, ob ein Plus oder ein Minus unter den Hausaufgaben steht, ob überhaupt etwas im Heft steht und ob das Mandala ordentlich ausgemalt ist. Im Ranzen mögen sich Gründe verbergen, eine Extra-Übungs-Viertelstunde am Nachmittag ansetzen zu müssen. Warum geben Lehrer eigentlich immer so wenig Hausaufgaben auf?

Mein Sohn fand nie etwas daran auszusetzen, dass ich seinen Ranzen in Ordnung brachte (zumindest solange er noch in der Grundschule war). Nur mein Mann machte sich Sorgen um das Briefgeheimnis. Er schüttelte dazu missmutig den Kopf und merkte an: "Wenn du dich weiter so aufregst, wirst du das Abitur deines Sohnes nicht erleben." Einige Selbsthilfegruppenstunden mit meinen Freundinnen und Leidengenossinnen später habe ich das dann auch erkannt.

Bis dahin aber hatte ich eben meine Zeit gebraucht, um meinen ersten leicht traumatischen Besuch bei Moritz' Grundschullehrerin zu verarbeiten. Er war gerade drei Tage in der Schule, da bat sie mich zum Gespräch. Natürlich war ich wieder völlig ahnungslos, nur später erinnerte ich mich, dass ich ihn am Tag zuvor auf seine dreckige Hose angesprochen hatte. Er sei eben hingefallen, hatte er gesagt, und ich hatte mir nichts weiter dabei gedacht.

Nun ja, er war hingefallen, nachdem er auf dem weitläufigen Schulgelände mit seinem Freund über einen Zaun geklettert und im noch nicht ganz ausgetrockneten ehemaligen Biotop des benachbarten Gymnasiums gelandet war. Danach hatte er das Klingeln nicht gehört und war zu spät in den Unterricht gekommen. Eingequetscht in die kleinen Erstklässlerstühle, die einen direkt in die eigene Schulzeit zurückkatapultieren, hörte ich mir diese mit deutlichem Ernst vorgetragene Geschichte der Lehrerin an, der sie den entscheidenden Halbsatz hinzufügte: "Er ist ja auch noch sehr jung ..."

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+++ Teil 10 der Serie: Spielen und Spielzeug - Lasst die Puppen tanzen +++

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Da saß ich nun, geschult in harten Interviewtechniken und gnadenlosem Nachhaken, und war sprachlos. Die Lehrerin hatte meinen wunden Punkt getroffen. Moritz, geboren im Oktober, war mit fünf Jahren eingeschult worden und damit etwa ein gutes Jahr jünger als die meisten in seiner Klasse. Die Entscheidung war vor allem mir nicht leichtgefallen, obwohl alle, auch der Grundschuldirektor, dazu geraten hatten. Wann immer kleine Schwierigkeiten aufkamen, war das der erste Satz, den ich mir wieder selbst vorhielt. Toll, dass die Lehrerin mir ganze drei Jahre später erklärte: "Ich habe ja damals doch schnell gemerkt, dass Sie die richtige Entscheidung getroffen hatten."

Von da an war sie meine Verbündete, denn sie sagte einen weiteren guten Satz. Es ging mal wieder um die Rechtschreibung. (Ist er doch Legastheniker?) "Manche Dinge sind auch eine Frage der Entwicklung." Recht hat sie. So ein kleiner Kopf muss doch erst groß werden. Was heute noch unüberwindbar scheint, klappt morgen oft schon ganz flüssig. Auch ohne nervenaufreibende Diktate an Sonntagen, Nachhilfe schon in der zweiten Klasse oder Lerncamps in den Ferien. Als ich von einem "Du musst" zu einem "Ich kann dir anbieten, dass" wechselte, übernahm Moritz immer mehr Verantwortung für sich selbst und seine Leistungen. Ein Reifeprozess eben - für uns beide.