Eine Shopseeing-Tour mit Martine Thürcke bietet spannende Einblicke in den Alltag auf dem Kiez jenseits der Touristenströme.

Eine Führung durch St. Pauli? Haut niemanden mehr vom Hocker, könnte man meinen. Schließlich war doch jeder schon mal auf der Reeperbahn, nachts um halb eins. Genauso hätten auch die Söhne eines Ehepaars auf den Vorschlag reagiert, St. Pauli jenseits der Touristenströme zu entdecken. "Kennen wir doch alles", kam als müde Antwort. "Und dann waren sie doch total begeistert", erzählt die Hamburgerin Martine Thürcke.

Die Stadtführung, die die ehemalige Stylistin anbietet, ist keine gewöhnliche. Anstatt die Teilnehmer mit Fakten über bekannte Sehenswürdigkeiten zu ermüden, sollen sie die Stadt mit allen Sinnen hautnah erleben. Etwa bei einer Senfverkostung, einer Hörprobe im Plattenladen Freiheit & Roosen, der noch jahrzehntealte Schellackplatten auf Lager hat, oder einer Duftprobe im wunderschönen Blumenladen Saintpaulia. "Shopseeing" nennt Martine Thürcke ihre Tour durch St. Pauli oder Blankenese, eine Mischung aus Sightseeing und Entdeckungstour durch die kleinen, kultigen Läden des jeweiligen Viertels. "Die inhabergeführten Geschäfte, die ich auf meiner Tour ansteuere, habe ich selbst entdeckt, sie liegen mir sehr am Herzen." Weil sie ganz besondere Dinge in ganz besonderer Atmosphäre anbieten.

Und natürlich geht es auch um die "echten Originale": urige, schräge, liebenswürdige Typen, die ein Viertel ausmachen. Einer davon ist der Schuhmachermeister Marcus Hintze. Mit Dreitagebart, Tattoo und Boxer, der zur Begrüßung der Kunden auch schon mal auf die Ladentheke springt, passt er gut in die Gegend. "Bei mir lassen sich leichte Mädchen und Rentnerinnen gleichermaßen die Schuhe besohlen. Und jeder wird konsequent geduzt", sagt Hintze. Sicherlich hätte er noch einige Anekdoten zu erzählen, doch die Zeit drängt. Der winzige Laden an der Kleinen Freiheit ist nur einer von vielen sehenswerten Stopps während der etwa dreistündigen Führung.

Bis zu acht Personen führt die Reiseleiterin zu Fuß durch ihr persönliches Hamburg. Häufig sind Touristen dabei, aber auch Hamburger seien interessiert, die Stadt von einer anderen Seite kennenzulernen. Schließlich könne die "andere" Stadtführung auch wieder für die Schönheiten der Heimat sensibilisieren, jenseits der bekannten Attraktionen wie Michel, Hafenrundfahrt und Hagenbecks Tierpark. Oder wie im Fall der Shopseeing-Tour - jenseits der bekannten Einkaufsmeilen Mönckebergstraße oder Neuer Wall. "Für die kleinen, versteckten Sehenswürdigkeiten bleibt meist keine Zeit. Dabei verbergen sich gerade dahinter die charmantesten Geschichten", sagt Martine Thürcke. St. Pauli bei Tag - für viele Besucher eine ganz neue Erfahrung. Watet man sonst durch nächtliche Bierflaschen-Meere von Kneipe zu Kneipe, sieht man während einer Shopseeing-Tour auch mal, wie schön grün Wohlwillstraße und Paulinenplatz sind, entdeckt ein kleines, bisher unbeachtetes italienisches Ecklokal oder das Kino B-Movie an der Brigittenstraße.

Oder eben die Geschäfte, die eine besonders nette, fast dörfliche Atmosphäre verbreiten. Eine, für die St. Pauli ebenso berühmt ist wie für Kiez und Krawall. Lydia Rennspieß ist deshalb vor einigen Jahren mit ihren Kindern hierhergezogen: "Damals war St. Pauli noch ein bisschen verrucht. Heute ist es ja sehr angesagt, hier zu wohnen. Besonders nett finde ich die Nachbarschaft." In ihren Feinkostladen Schmakazien im Souterrain an der Hein-Hoyer-Straße, der mit seiner weißen Einrichtung wie eine Puppenstube aussieht, kommen die St. Paulianer besonders wegen der köstlichen Käseauswahl und der speziell in Paprikagewürz eingelegten Oliven.

Weiter geht es zu Saintpaulia: Der Blumenladen von Mirja Willer hält viele Pflanzen aus den Vierlanden bereit, die Sträuße sehen aus wie frisch von der Wiese gepflückt. "Es ist für jeden Geschmack etwas dabei", sagt Martine Thürcke.

Damit auch die Geschichte des Viertels nicht zu kurz kommt, streut die Stadtführerin kleine Anekdoten ein. Zum Beispiel erklärt sie, dass die Straßennamen Kleine und Große Freiheit mit der einstigen Religionsfreiheit auf St. Pauli zusammenhängen, die hafennahe Amüsiermeile bis 1833 noch Hamburger Berg hieß und der Namen gebende Schutzpatron Paulus ausgerechnet ein Sitten-Apostel war.

Während die St.-Pauli-Entdecker bei den "Eisheiligen" ein paar Kugeln schlecken, zeigt Martine Thürcke auf die Jägerpassage - "dort im Hinterhof liegen die ersten Sozialwohnungen Hamburgs, die einst Standards setzten."

Zum Abschluss jeder Tour wird geschlemmt: Bei Käse, Oliven und Prosecco oder einem Besuch auf dem Nachtmarkt am Spielbudenplatz lassen die Besucher die Tour Revue passieren. Fast alle sind dann der Meinung: St. Pauli ist tagsüber viel schöner als nachts um halb eins.

Die Shopseeing-Touren finden ganzjährig statt und kosten 24 Euro pro Person. Infos, Termine und Buchungen unter www.shopseeing.de oder Tel. 0160/841 34 37