Sie trafen sich seit Jahrzehnten, die Überlebenden des Schlachtschiffs, das vor 70 Jahren sank. 2011 kam aber nur noch einer.

Friedrichsruh. Erschreckt flattern einige Vögel aus den Blutbuchen auf, als plötzlich eine Bootsmannpfeife durch den Park in Friedrichsruh schrillt. Dann ist kurz Ruhe, in den Bäumen rauscht wieder nur Wind, bis der manchmal leicht scheppernde Ton einer einzelnen Trompete ertönt. "Ich hatt' einen Kameraden", summt ein hochgewachsener, vielleicht 50 Jahre alter Mann in der Uniform eines Marine-Reservisten mit.

Gut zwei Dutzend meist ältere Frauen und Männer haben sich in dem weitläufigen Gelände am Bismarck-Mausoleum bei Aumühle versammelt. Wie seit Jahrzehnten schon. Immer zu Beginn des Sommers. Immer, wenn die Überlebenden des Schlachtschiffs "Bismarck" hier einen Kranz niederlegen, um des Untergangs des einstigen Stolzes der nazi-deutschen Kriegsmarine zu gedenken. Sie war die modernste Kriegsmaschine ihrer Zeit, wurde von der NS-Propaganda für unbesiegbar erklärt - und doch vor 70 Jahren etwa 400 Seemeilen vor Brest im Atlantik von einer Übermacht britischer Schiffe zum Wrack geschossen, weil die deutschen Befehlshaber eine Kapitulation verweigerten. Mehr als 2100 Menschen kamen dabei um, viele ertranken in dem 13 Grad kalten Wasser.

US-Regisseur James Cameron nannte sie nach seiner Tauchexpedition zu dem Wrack "die deutsche 'Titanic'", weil ihr Untergang ähnlich mythenbehangen ist. Umstritten ist bis heute, ob sie wirklich von Torpedos und Granaten zerstört wurde - oder ob es eine befohlene Selbstversenkung war.

Nur 116 Besatzungsmitglieder der "Bismarck" überlebten. Heute zum 70. Jahrestag steht in der Runde ein alter Mann in hellem Jackett, gebeugt auf einen Stock. Man sieht, dass er mal ein breites Kreuz hatte. Er schaut auf den Trompeter, hinauf in die Wipfel der Buchen. Dann blickt er auf die Umstehenden: Hellblaue klare Augen, volles graues Haar und ein markantes Kinn prägen sein Gesicht. "Ich bin der Letzte, ja?", sagt er fragend mit dem Singsang des Ruhrpöttlers und lächelt dann: "Ein Grufti, datt sacht man doch!"

18 Jahre alt war Bernhard Heuer, als er 1941 auf die erst im Jahr zuvor bei Blohm & Voss in Hamburg gebaute "Bismarck" kam. "Freiwillig habe ich mich gemeldet", sagt er. Weil er sowieso eingezogen worden wäre, wie seine Kumpels auch. Von einem Onkel hat er immer Seefahrtgeschichten mitbekommen, deshalb wollte der Essener zur Marine. Nun ist er der Letzte der Überlebenden, der zur Kranzniederlegung am Gedenkstein gekommen ist. Viele von damals sind gestorben, im letzten Jahr allein vier. Und manche sind zu gebrechlich, um sich noch auf den Weg nach Aumühle zu machen.

Jetzt ist eben nur noch Bernhard Heuer da, in der Gruppe der Angehörigen und Marine-Reservisten ist er der letzte Zeuge eines Untergangs, der zum Mythos gemacht wurde. Von heldenhaftem Tod sprach man im Dritten Reich. Vom sinnlosen Opfern der Mannschaft war später bei Historikern die Rede. Bernhard Heuer selbst hat sich eher wenig Gedanken gemacht, was es nun war, damals. "Ich war viel zu sehr beschäftigt, dort zu überleben", sagt er.

Andere, die nicht dabei waren, reden deutlich mehr über das Geschehen, etwa der Pastor, der bei der Gedenkfeier spricht. Ein weißhaariger Mann mit energischem Gesicht, der von Pflicht, Eid und Opfergang redet und davon, dass man die damalige Zeit nicht mit den heutigen Maßstäben beurteilen dürfe. Neben ihm schaut ein großer, etwas fülliger Mann in dunkler Uniformjacke auf den Gedenkstein. Es ist der Pfeifenbläser; viele bunte, kleine Abzeichen blinken an der Brust. "Der Hofer, Peter aus Graz", stellt er sich vor. Nein, Marine am Wörthersee gebe es natürlich nicht, aber in der k.u.k-Zeit, ja, da hatte Österreich noch eine Marine an der Adria - und heute eben Mitglieder von "Traditionsvereinen" wie ihn.

Da ist aber auch die ältere Dame mit Hut aus Hamburg-Horn. Vor knapp einem Jahr ist ihr Mann, auch er einer der "Bismarck"-Überlebenden, gestorben. Immer ging er zu diesen Gedenktagen. Und sie hat ihn begleitet. "Das hat ihm sehr viel bedeutet, deshalb bin ich gekommen", sagt die 83 Jahre alte Dame leise. Woran denkt sie nun? "An die Schreie", sagt sie nach kurzem Nachdenken. An die Schreie ihres Mannes nachts im Bett, den auch Jahrzehnte nach dem Untergang Angstträume quälten.

"Rheinübung" - das war der geheime Codename des ersten und zugleich letzten Einsatzes der "Bismarck". Heimlich sollte sie in den Nordatlantik auslaufen. Doch schon in der Dänemarkstraße wurde sie am 24. Mai von britischen Schiffen entdeckt. Nördlich von Island stellten sich die "Hood" und die "Prince of Wales" dem gewaltigen deutschen Kriegsschiff entgegen. Die "Bismarck" erwies sich als überlegen, versenkte den Schlachtkreuzer "Hood" 1415 Mann starben, kaum eine Handvoll wurde gerettet.

Die Briten zogen daraufhin alle verfügbaren Einheiten zusammen, um das deutsche Flaggschiff zu jagen. Längst ging es nicht mehr um militärische Strategie, sondern um Symbolik in diesem Krieg. Die Engländer wollten das Schiff um jeden Preis versenken, Nazi-Deutschland wollte bedingungslose Treue zu Führer und Vaterland demonstrieren. Die jungen Männer, fast noch Jugendliche, hatten nie eine Chance. Am 26. Mai erhielt die "Bismarck" einen Treffer in die Ruderanlage und war ihren Verfolgern ausgeliefert. Um Mitternacht hörte die "Bismarck"-Mannschaft über die Schiffslautsprecher eine Rede von Admiral Lütjens, der als Flottenchef mit an Bord war. Es gebe kein Entrinnen mehr, gegen vier Uhr werde der Feind die "Bismarck" eingekreist haben, kündigte Lütjens an. Da arbeitete Bernhard Heuer tief unten hinter dem dick gepanzerten Rumpf an der Backbordturbine. Lärm, Schweiß, Dreck - er sei zu beschäftigt gewesen, um Angst zu haben, sagt er. Doch die Ansprache des Admirals, "die hat uns runtergezogen, obwohl keiner so recht an einen Untergang glauben wollte".

Um 8.47 Uhr früh brach das Inferno über die Besatzung herein. An die 3000 Granaten aller Kaliber, wird später geschätzt, wurden auf die "Bismarck" abgefeuert. Nach kaum einer Stunde konnte nicht mehr zurückgeschossen werden, überall an Bord loderten Flammen. Die Gedenkrunde aus Friedrichsruh ist zum Mittagessen in eine nahe Dorfgaststätte gefahren. Irgendjemand hat ein fast zwei Meter langes Modell der "Bismarck" hereingetragen und auf einen der hinteren Tische gestellt. Wenn man auf Knöpfe drückt, ertönt Marschmusik. Oder ein dünnes Tack-Tack-Tack. "Maschinengewehrfeuer", jemand aus der Gruppe der Reservisten und Traditionalisten erkennt das begeistert. Man fachsimpelt.

Über 38-Zentimeter-Geschütze, über Torpedos und ob sie überhaupt in der Lage gewesen wären, die "Bismarck" zu versenken, was der Hofer Peter aus Österreich nicht glauben mag. Dazwischen immer wieder die Musik. Oder das Tack-Tack-Tack. Im Hintergrund klappert Geschirr. Kellnerinnen tragen Schüsseln mit Kartoffeln, Rotkohl und Fleisch herein. Auf seinen Stock gestützt, leicht gebeugt, schaut sich Bernhard Heuer das Schiffsmodell an. "Dort unten", sagt er und deutet auf den unteren Part des Rumpfes, "dort war ich." Selbst als die "Bismarck" im Granathagel lag, hat er dort unten nicht viel von dem Inferno an Deck gemerkt. Dann aber kam ein Maschinist, höherer Dienstgrad, die Metalltreppe heruntergehastet, erzählt Heuer. In der Hand trug er Sprengkörper. "Zündung nach acht Minuten, habe ich darauf gelesen", sagt Heuer und richtet sich über seinem Stock plötzlich auf. Sein Körper spannt sich. "Wir sollten uns selbst versenken", sagt er. Er zog damals seine schwere Marine-Lederjacke aus und rannte die Treppen hoch. Oben an Deck blieb er kurz stehen. Rauch, zerborstenes Metall, Tote, Blutlachen. Manche der Kameraden lebten noch. "Die haben um Zigaretten gebettelt - ich hatte aber doch keine." Angst habe er auch da nicht gespürt, sagt Heuer. "Ich lasse immer alles auf mich zukommen, denke nicht groß darüber nach, was alles passieren kann".

Vermutlich hat ihm das sein Leben gerettet. Als er aufs Oberdeck gelangte, hatte das Schiff bereits Schlagseite. Ein Atlantik-Brecher erfasste ihn, schleuderte ihn ins Meer. "Nur kein Wasser schlucken, dann ist's aus, das habe ich mir gesagt, immer wieder." Im kalten Wasser kämpfte er wie viele Hundert andere deutsche Marinesoldaten auch mit den Wellen und der Erschöpfung. Ein hoher Schiffsrumpf tauchte nach einer Weile auf. "Die erschießen uns jetzt", dachten die Männer.

Doch von dem britischen Kriegsschiff wurden Tampen heruntergelassen. Heuer konnte einen greifen, merkte plötzlich einen Ruck, wurde nach oben gezogen. An seine Füße klammerten sich andere, verzweifelte Gestalten. Wieder dachte Heuer nur an den Augenblick, blendete alles andere aus, umklammerte das Seil mit aller und letzter Kraft. Oben hievten ihn starke Arme über die Reling, man brachte ihn sofort unter Deck. "Dann hörte ich es schon im Bordlautsprecher: submarine - U-Boot-Alarm", erinnert sich Heuer, während um ihn herum in dem Gaststättensaal weiter über 38-Zentimeter-Geschütze diskutiert wird. Das britische Kriegsschiff drehte ab. Später sollten Historiker darüber streiten, ob wirklich ein deutsches U-Boot bei der Rettungsaktion in der Nähe gewesen war. Und ob den britischen Schiffen Gefahr drohte. Für die Hunderten junge Männer, die noch in der See trieben, bedeutete der U-Boot-Alarm den Tod. Verzweifelt müssen sie gesehen haben, wie alle Schiffe mit gurgelndem Schraubenwasser davonfuhren.

Bernhard Heuer war nun Kriegsgefangener, kam später nach Kanada, wo er zum Holzfällen eingeteilt wurde, während in Europa durch Krieg und Nazi-Rassenwahn Millionen von Menschen starben. "Der Tommy", sagt Heuer, "der hat uns immer gut behandelt". Und auch später zu den Überlebenden-Treffen seien ehemalige britische Soldaten zum gemeinsamen Erinnern gekommen. Heuer, der nach seiner Kriegsgefangenschaft schon bald heiratete, eine Tochter hat und bis zu seiner Rente im alten Beruf in einer Gießerei arbeitete, war bei diesen Treffen oft dabei. Auch wenn er die Gedanken an das viele Blut, die verletzten Kameraden immer wieder von sich abschüttelt, diese Gedenktage waren Teil seines Lebens, die Feier einer Wiedergeburt - so wie für viele seiner Kameraden von dem Schiff.

Nun ist er der Allerletzte. Was bleibt da? Heuer zuckt die Schultern, er ist kein Mann für große Worte. Glück, ja - das hat er wohl damals gehabt. Süß fürs Vaterland zu sterben, Treue bis in den Tod - solche Parolen, die anderen leicht über die Lippen gehen, sagen dem wortkargen Handwerker nicht viel. Er war dabei, als wirklich gestorben wurde. Irgendwie war er damals nur so hineingerutscht, ohne sich groß Gedanken zu machen. Es hat sein Leben verändert, auch wenn er davon wenig erzählt.

Bernhard Heuer blickt nachdenklich, fasst dann den Reporter kurz und fest am Ärmel. "Nur nachts, wenn man im Bett liegt und die Bilder kommen wieder - datt iss dat Schlimmste."