Erst Abitur, dann Studium? Auch Hauptschul- und Realschulabschluss bieten Chancen

Nach sieben Jahren im Beruf Studentin zu werden, und das als alleinerziehende Mutter, ist ein mutiger Schritt. Doch Julia Balanski, 25, fand, diese Chance könne sie sich nicht entgehen lassen. Die Handelskammer hatte ihr geraten, sich um ein Begabtenstipendium zu bewerben. Ihre Ausbildung zur Tierpflegerin in der Fachrichtung Forschung und Klinik am UKE hatte sie mit 96 Punkten von 100 bestanden und sich in beruflichen Stationen bewährt: Im Centrum für Innovative Medizin (CiM) und in einem Labor für Kryokonservierung. Damit erfüllte sie die Voraussetzungen für die „Begabtenförderung berufliche Bildung“, die sich an leistungsfähige Absolventen einer Berufsausbildung richtet.

Balanski ergatterte das Stipendium und bestand in der Folge auch die Zugangsprüfung der Universität Hamburg für das Studienfach Biologie. Die war nötig, weil sie mit einem Realschulabschluss statt mit Abitur ins Berufsleben gestartet war. „An meinem ersten Tag an der Uni fiel mir vor allem auf, wie jung alle waren“, erzählt sie. Dabei war sie mit 23 den Abiturienten an Jahren gar nicht weit voraus, aber mit ihrer Berufserfahrung und als Mutter brachte sie eine ganz andere Lebenserfahrung mit. Schnell entstanden Freundschaften, „das gemeinsame Ziel verbindet“.

Dennoch überkam sie gerade am Anfang die Angst vor der eigenen Courage. „Nach so langer Zeit zurück auf die Schulbank, was hatte ich mir nur dabei gedacht? Immer mal wieder gibt es Vorlesungen, da verstehe ich kein Wort.“ Doch dann setzt sie sich an ihre Bücher und erarbeitet sich die Inhalte. Mit Erfolg, inzwischen studiert sie im vierten Semester. „Natürlich gibt es Tage, da sehne ich mich danach, einfach Feierabend zu machen. Aber ich studiere, weil ich es unbedingt möchte.“

Das gilt auch für Sarah-Milena Christiansen. Mit 16 Jahren war sie mit ihrem Hauptschulabschluss ins Berufsleben als Friseurin gestartet. Mit Anfang 20 war sie bereits Friseurmeisterin und hatte noch jede Menge Arbeitsleben vor sich. „Also überlegte ich, was nun? Selbständigkeit kam nicht infrage, so kam ich aufs Studium.“ Der Meisterbrief ebnete ihr den Hochschulzugang. Ihr Ziel: Berufsschullehrerin. Nun studiert die 25-Jährige Kosmetikwissenschaft auf Berufsschullehramt im vierten Semester. Wer bei diesem Studiengang an Schminken denkt, liegt ganz falsch. Kosmetische Chemie, biophysikalische Messverfahren, Dermato- und Trichokosmetik, Ästhetik oder Modesoziologie stehen auf dem Stundenplan und werden ergänzt durch Chemie- und Biologie-Module. „Biologie ist zudem das Unterrichtsfach, auf das ich mich als Berufsschullehrerin spezialisiere“, erläutert Christiansen. Jede Menge anspruchsvoller Stoff, den sie auf ihrem Weg zum Bachelor und dann weiter zum Master zu bewältigen hat. „Viele Inhalte kann ich aus meinem Praxiswissen heraus erarbeiten. Was mir an Abiwissen fehlt, muss ich natürlich nachholen“, sagt sie.

Bedauert sie es, nicht gleich bis zum Abitur die Schule besucht zu haben? „Nein, das war damals für mich richtig.“ Ein Schulpraktikum in einem Friseursalon brachte sie vom Schulweg ab. „Ich war auf der Realschule, fand aber: Was mir Spaß macht, kann ich auch sofort tun – und verließ die Schule mit dem Hauptschulabschluss. Es war schlicht der Reiz des Neuen, und der hat mich ja jetzt auch an die Universität geführt.“ Christiansens Weg sei keineswegs ungewöhnlich, sagt Professor Alexander Bassen von der Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg. „Wer mit dem Haupt- oder Realschulabschluss ins Berufsleben gestartet ist, stellt sich mit Ende 20 eventuell die Frage: Ist das jetzt schon alles? Der Quereinstieg an die Universität erfolgt dann aus der Motivation heraus, seinem Leben eine neue Wendung zu geben.“

Bassen ist ein Befürworter der Durchlässigkeit des Systems. Die beruflich erworbene Hochschulzugangsberechtigung, also ein Meisterbrief oder eine Zugangsprüfung, ermöglicht es Berufstätigen, auch ohne Abitur ein Studium aufzunehmen. „Ein fehlendes Abitur hat viele Gründe. Ob in der Pubertät das Interesse eher abseits der Schule lag oder vielleicht ein bildungsferner Haushalt die Frage nach Abitur und Studium nicht hat aufkommen lassen. Vielleicht hätte dieser Weg sogar Widerstände hervorgerufen, die in jungen Jahren nur schwer zu meistern gewesen wären.“ Unterschiede zwischen den Studierenden, die gleich nach dem Abitur an die Universität wechseln, und Quereinsteigern sieht Bassen vor allem am Studienanfang, wenn zum Beispiel Mathe-Defizite aufgeholt werden müssen. Danach beobachtet er bei Letzteren eine größere Ernsthaftigkeit. „Sie wollen die Chance des Quereinstiegs unbedingt nutzen, und das führt oft zu einer starken Studienmotivation.“

So wie bei Thomas Rewel. Der 35-Jährige verließ die Schule mit dem Fachabitur, ging zur Bundeswehr, machte eine Ausbildung zum Verlagskaufmann, durchlief ein Volontariat beim Axel Springer Verlag, bevor er in einem Marketingunternehmen eine gut bezahlte Stelle antrat. Mit 30 Jahren zog er Bilanz: „Was will ich noch erreichen?“ Der Wunsch zu studieren, sagt er, war immer da. Blieb noch die Frage der Finanzierung. Mit über 30 besteht kein BAföG-Anspruch mehr. „Also habe ich mein Auto verkauft, mir einen Mitbewohner gesucht und einen Studienkredit aufgenommen.“ Zudem kombinierte Rewel von Anfang an sein Studium mit unterschiedlichen Jobs, absolvierte dennoch sein Bachelor- und Masterstudium im Studienfach Sozialökonomie in der Regelstudienzeit und schloss mit der Note 1,66 ab. „Das war von Anfang an mein Ziel: Ein Studium in möglichst kurzer Zeit bei bestmöglichen Noten.“