Würzburg. Legasthenie wird je nach Studie bei 5 bis 6 Prozent aller Menschen diagnostiziert, oft schon bereits während der Schulzeit. Doch wie geht es nach dem Abschluss weiter - etwa in der Ausbildung?

Vermutlich müssen Sie sich nicht besonders stark konzentrieren, um diesen Satz lesen zu können. Für viele Menschen mit Legasthenie ist das anders. Ihnen fällt es schwer, Texte zu lesen oder zu schreiben.

Oft ist das bereits in der Schule Thema. Kinder- und Jugendpsychiater können ab Mitte der zweiten Klasse eine gesicherte Diagnose stellen. "Das ist so wichtig, damit man die richtige Förderung bekommen kann.

Außerdem hat man nur mit einer Diagnose gesetzlichen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich und kann so seine Beeinträchtigung kompensieren", sagt Annette Höinghaus vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL) . "Wenn sich Betroffene dann nicht mehr so viele Sorgen um das Erfassen der Texte machen müssen, können sie sich wirklich auf die Inhalte und Themen konzentrieren und herausfinden, worin sie richtig gut sind und was ihnen Spaß macht."

In der Arbeitswelt kommen Legastheniker hervorragend klar

Da Legasthenie nichts mit Intelligenz oder fachlicher Kompetenz zu tun hat, könnten Betroffene jeden erdenklichen Beruf wählen, so Höinghaus. "Es gibt Ärzte, Rechtsanwälte, Professoren und Journalisten mit Legasthenie. Man sollte sich nicht von Negativerfahrungen in der Schule demotivieren lassen."

In der Arbeitswelt selbst kommen Menschen mit Legasthenie dank Technologien wie Rechtschreibprogrammen oder Spracherkennungssoftwares oft hervorragend klar. Bleibt nur noch der Weg dorthin. Sowohl für die duale Ausbildung als auch an Hochschulen und Universitäten gibt es Regelwerke und Leitlinien, die sicherstellen sollen, dass Betroffene dieselben Chancen wie die anderen Azubis und Studierende haben.

Kirsten Vollmer arbeitet im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und hat zusammen mit einer Kollegin ein Handbuch zum Thema Nachteilsausgleich bei behinderten Auszubildenden erarbeitet. Sie sagt: "In den letzten Jahren hat sich erfreulich viel verändert. Die Betriebe sind sehr offen und interessiert - vor allem in den Bereichen und Branchen, in denen Fachkräftemangel besteht. Auch die Kammern und Innungen haben mittlerweile das Thema mehr als früher auf der Agenda."

Mehr Zeit oder Hilfsmittel in der Prüfung

Um in Prüfungssituationen Chancengleichheit herzustellen, gebe es viele Möglichkeiten. Die Zeit könne verlängert werden, es könnten Hilfsmittel wie ein Wörterbuch oder eine Software erlaubt, schriftliche Aufgaben vorgelesen werden. Zudem könne eine schriftliche Prüfung als mündliche Prüfung abgehalten werden.

Vollmer erklärt: "Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass Menschen mit einer Behinderung wie Legasthenie ein Nachteilsausgleich zusteht. Es ist aber nicht definiert, wie dieser Ausgleich konkret auszusehen hat."

Die Kammer entscheidet über den Nachteilsausgleich

Und das ist auch gut so: Denn jeder Mensch mit Legasthenie hat individuelle Probleme und Bedürfnisse. So kann es dem einen helfen, mehr Zeit zu bekommen, dem anderen aber bringt das überhaupt nichts. "Man kann sich das in etwa so vorstellen wie eine Sehstörung. Damit die Menschen genauso gut sehen können wie andere, brauchen sie eine Brille. Aber natürlich hilft nicht jede Brille jedem Menschen", sagt Höinghaus.

Ob ein Nachteilsausgleich gewährt wird und wie dieser auszusehen hat, entscheidet in einer Ausbildung die zuständige Kammer. Die fachlichen Anforderungen der Prüfung bleiben gleich. Vollmer empfiehlt, so früh wie möglich, spätestens aber bei der Prüfungsanmeldung, gut begründete Vorschläge für den gewünschten Nachteilsausgleich miteinzureichen. "Diese Empfehlungen können vom Facharzt kommen, der auch das Gutachten schreibt, von der Berufsschule oder dem Ausbildungsbetrieb. Auf dieser Grundlage kann die Kammer dann ihre Entscheidung treffen."

Nachteilsausgleich darf nicht ins Abschlusszeugnis

Ähnlich sieht die Situation an Hochschulen und Unis aus. Sandra Mölter leitet die Kontakt- und Informationsstelle für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung der Universität Würzburg .

Sie sagt: "Sechs Prozent aller Studenten in Deutschland haben Legasthenie. Durch Nachteilsausgleiche und die Möglichkeit einer Studienassistenz sollen sie ihr Studium genauso gut abschließen können wie ihre Kommilitonen."

Auf dem Zeugnis der Universität darf ein Nachteilsausgleich nicht vermerkt werden. Dasselbe gilt für das Abschlusszeugnis der dualen Ausbildung, das die zuständige Kammer ausstellt.

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