Karrierewege: Ullrich Quietzsch leitet die JVA in Billwerder. Der Psychologe verdankt seinen stetigen Aufstieg hoher Flexibilität und Mut zu Neuem.

Mit 20 Jahren hat er noch geschwankt. Journalismus kam für ihn infrage oder Architektur. Doch es wurde die Psychologie, weil den Abiturienten interessierte, was Menschen bewegt und was ihr Verhalten antreibt. „Es war die richtige Entscheidung für mich“, sagt Ullrich Quietzsch heute. Aber eine klare Vorstellung, welchen Berufsweg er nach dem Studium an der Technischen Universität in Braunschweig einschlagen würde, hatte der heute 57-Jährige damals nicht. Der Strafvollzug spielte für ihn keine Rolle. „Wenn mir vor 37 Jahren jemand gesagt hätte, dass ich hier lande, hätte ich ihn ausgelacht.“

Gelandet ist Quietzsch im größten Hamburger Gefängnis in Billwerder. Er arbeitet hinter Gittern, umgeben von sechs Meter hohen Betonmauern und gesichert durch Natodraht. Seit 2004 leitet er die Justizvollzugsanstalt (JVA). Damit ist er der Chef von 360 Mitarbeitern, trägt die Verantwortung für 600 Häftlinge und muss für ein Budget von 3,8 Millionen Euro geradestehen. „Es ist für mich der spannendste Job, der im Hamburger Strafvollzug zu vergeben ist“, sagt er. Die Psychologie, die sein Vater für „brotlose Kunst“ hielt, brachte den Sohn in eine Top-Position unter Hamburgs Beamten.

In Kursen für die Volkshochschule lernte er, Menschen für Themen zu begeistern

Dabei war der Einstieg in die Karriere nicht leicht. Schon früh, während seines Studiums, starben Mutter und Vater. Jobs für Psychologen waren in den 80er-Jahren rar. Quietzsch musste sich nach dem Examen mit Kursen an der Volkshochschule (VHS) Braunschweig durchschlagen. Dort lernte er, Menschen für Themen zu begeistern. „Das war schon deshalb wichtig, weil nur Kurse bezahlt wurden, für die es genug Anmeldungen gab.“ Auf der Suche nach einem Vollzeitjob brachte ihn der Tipp eines Kollegen dann erstmals in Kontakt mit einer JVA.

In Hannover begann er in der Einweisungsabteilung, die alle Gefangenen durchlaufen mussten, die in Niedersachsen eine Freiheitsstrafe von mehr als 18 Monaten zu verbüßen hatten. Einbrecher und Mörder mussten nach einem psychodiagnostischen Befund in einer JVA untergebracht werden. „Mir waren die Abläufe zu schematisch, ich fühlte mich eingeengt“, erinnert sich Quietzsch.

Noch in der Probezeit schrieb er Bewerbungen. Nichts klappte. Also versuchte er, Spielräume für eigene Ideen auszuschöpfen. So etwa in der Fortbildung für Mitarbeiter, für die er auf praktisches Lernen setzte. Dass er dafür auf seine Erfahrungen an der VHS zurückgreifen konnte, half ihm. Zugleich aber auch, dass ihn sein Chef in Hannover ermutigte, etwas zu wagen. Es war eine wichtige Erfahrung für seine Karriere.

Erst nach sieben Jahren verließ Quietzsch Hannover und wechselte in eine JVA an seinem Wohnort Braunschweig. 180 Plätze für Untersuchungshäftlinge gab es dort, auch diese Gefangenen mussten psychologisch betreut werden. Einer davon: ein Drogenabhängiger, der fürchtete, dem Richter seinen Wunsch nach einer Therapie nicht nahebringen zu können. Quietzsch stellte ihn neben die Kanzel der Anstaltskirche, setzte sich in die letzte Reihe und ließ den Mann sein Anliegen vortragen. So lange, bis er sicher war, dass der Wunsch Gehör finden könnte. Der Häftling erhielt den Therapieplatz. Der Dauerstress im Untersuchungsgefängnis, in das täglich Häftlinge eingeliefert oder daraus entlassen wurden, machte sich jedoch bemerkbar. Quietzsch wurde krank. Alle drei Monate musste er mit einer Mandelentzündung zum Arzt. Der fragte ihn irgendwann, ob er sich nicht einen neuen Job suchen wolle. Es war der Anstoß für seinen Wechsel nach Hamburg.

Den Umzug in die Hansestadt empfand Quietzsch als Glücksgriff

Der neue Job in der „Sozialtherapeutischen Anstalt Altengamme“ für Gewalt- und Sexualstraftäter blieb zwar ein Intermezzo, aber den Umzug in die Hansestadt empfand er als Glücksgriff. Weil ihm die Stadt gefiel und weil er 1993 in die JVA Fuhlsbüttel wechseln konnte. Als dort ein neuer Chef begann, erlebte Quietzsch erneut einen Vorgesetzten als Unterstützer. Der traute ihm mehr zu als die Mitarbeiterfortbildung, für die Quietzsch seit Jahren zuständig war, und lag damit richtig. Quietzsch wollte mehr Verantwortung und bekam sie.

So leitete er das Projekt, Abhängigen hinter Gittern saubere Spritzen auszugeben – eine Aufgabe, um die sich damals niemand riss. Und er wurde zu einer RTL-Sendung zum Thema „Sex im Gefängnis“ geschickt, der schon damals in Fuhlsbüttel für Gefangene möglich war. Noch vor dem TV-Auftritt ging eine SMS seines Vorgesetzten ein: „Bleiben Sie ruhig. Ihnen gucken nur Millionen Zuschauer zu.“ Daran denkt er noch heute zurück: „Das Zutrauen hat mich vorangebracht.“ Quietzsch wurde Stellvertreter in Fuhlsbüttel, dann Chef der Untersuchungshaft- und Vollzugsanstalt Vierlande.

An die Spitze von Billwerder ging es dann ohne Bewerbung. Unter Druck – nach mehreren Ausbrüchen aus dem 2003 fertiggestellten Gefängnis, das noch keine Mauer umgab – tauschte der damalige Justizsenator Roger Kusch (CDU) die Leiter von Billwerder und Vierlande aus. „Ich wäre gern noch eine Weile in der JVA Vierlande geblieben“, räumt Quietzsch ein. Schließlich hatte er dort viel Raum, Ideen umzusetzen. Zum Beispiel regelmäßiges Selbstverteidigungstraining für Mitarbeiter, das Kollegen seit einer Geiselnahme organisierten. Als Pilotprojekt gestartet, ist es heute für alle Hamburger Gefängnisse obligatorisch.

Der Drang, zu gestalten und Ideen umzusetzen, hat Quietzschs Karriere befördert. „Ich wollte immer mit aufs Spielfeld“, sagt er. Geholfen haben ihm die beiden Chefs, die an ihn glaubten. Und seine Bereitschaft, den Job zu wechseln. „Aber gerade im Gefängnis geht es nicht ohne eine gute Mannschaft“, sagt er. So oft wie möglich sucht der Anstaltsleiter das Gespräch mit den Mitarbeitern. „Alle 360 kenne ich zumindest beim Namen, viele persönlich.“

Quietzsch sieht seine Aufgabe darin, die Strafgefangenen auf einen Weg zu bringen, den sie nach der Entlassung fortsetzen müssen. „Wir beraten sie, wie sie nach dieser Zeit hinter Gittern einen Job oder neue Kontakte finden können. Das dann auch zu tun, können wir aber niemandem abnehmen.“ Belastet auf die Dauer nicht das Umfeld, der ständige Aufenthalt hinter Mauern? „Nein“, sagt Quietzsch, „wer im Justizvollzug arbeitet, darf nicht unter den Bedingungen leiden. Die Verurteilten sind gegen ihren Willen hier, und ihre Freizügigkeit wird eingeschränkt. Wer damit hadert, ist nicht am richtigen Platz.“

Quietzsch jedoch hat seinen Platz gefunden. Langweilig dürfte es nicht werden. Seit er 2004 aus der JVA Vierlande in die Anstalt nahe der Autobahn 1 wechselte, hat sich die Zahl der Häftlinge verdoppelt, kamen Insassen aus der JVA Fuhlsbüttel, und künftig sollen in Billwerder auch Frauen aufgenommen werden. Für einen Macher wie ihn sind das Herausforderungen, auf die er sich freut. Aber es geht ihm um mehr. Er will im Gefängnis eine Kultur, die auf Respekt gegenüber den Gefangenen und einem vorbildlichen Verhalten seiner Crew beruht. „Gerade gegenüber den Gefangenen müssen wir aufrichtig sein“, sagt Quietzsch. Über Gefangene schreibt er in Gutachten nur Sätze, die er den Betroffenen auch ins Gesicht sagen könnte. Kein Wort mehr.