Digitale Medien lassen unser Hirn verkümmern, glaubt Psychiater Manfred Spitzer. Das wird sich in der Leistungsfähigkeit von Mitarbeitern zeigen.

Er polarisiert mit seiner Kritik an den digitalen Medien. Der Hirnforscher Manfred Spitzer sieht die Grundlagen unserer Gesellschaft in Gefahr, weil bei intensiver Nutzung von Computern, Smartphones und Navigationsgeräten unser Gehirn abbaut. Im Interview erklärt Manfred Spitzer, welche Folgen die Bildschirmmedien für das Arbeitsleben haben.

Hamburger Abendblatt:

Professor Spitzer, Kritiker werfen Ihnen Panikmache vor. Sie würden sich dem Wandel hin zur Wissensgesellschaft widersetzen und die Auswirkungen der digitalen Medien dramatisieren.

Manfred Spitzer:

Tatsache ist, dass der Medienkonsum wissenschaftlichen Studien zufolge stark angestiegen ist. Im Durchschnitt nutzen Neuntklässler in Deutschland Fernsehen, Internet und Computerspiele täglich rund 7,5 Stunden. Dabei ist der Gebrauch von Handys und MP3-Playern nicht einmal eingerechnet. Mit Medienkonsum verbringen Jugendliche mehr Zeit als in der Schule. Das hat Folgen für unser Wahrnehmen, Denken, Erleben, Fühlen und Handeln. Zu den wichtigsten Erkenntnissen im Bereich der Neurobiologie gehört, dass sich das Gehirn durch seinen Gebrauch permanent ändert. Das können wir heute mittels bildgebender Verfahren sichtbar machen. Wenn nun aber unser Gehirn immer lernt, dann hinterlässt auch die mit digitalen Medien verbrachte Zeit ihre Spuren, sie verändert unser Gehirn.

Und Sie fürchten, dass der Einsatz digitaler Medien unser Gehirn verkümmern lässt?

Spitzer:

Überlegen Sie mal, wie viele Telefonnummern Sie früher im Kopf abgespeichert hatten. Manche Nummern aus Ihrer Kindheit erinnern Sie heute noch. Inzwischen sind die Telefonnummern von Verwandten, Freunden und Kollegen im Handy gespeichert, und wir merken sie uns nur selten. Den Weg von A nach B zeigt uns das Navigationssystem. Wenn das Gerät ausfällt, ist es mühsam, den Weg selbst zu finden - auch, weil wir das Navigieren selbst, also das schnelle Zurechtfinden anhand von Landmarken und Karten, zumindest teilweise verlernt haben. Unsere beruflichen und privaten Termine haben wir im Handy oder Computer - wenn das System abstürzt, sind wir hilflos. Wer etwas wissen will, der googelt. Selbst denken, speichern, überlegen - Fehlanzeige. Unser Gehirn funktioniert so ähnlich wie ein Muskel: Wird er gebraucht, wächst er; wird er nicht benutzt, verkümmert er. Wir klicken uns also das Gehirn weg.

Aber es heißt doch, dass die Generation Internet die Fähigkeit zum Multitasking entwickelt.

Spitzer:

Es ist richtig, dass gerade junge Leute heutzutage mehrere Medien gleichzeitig nutzen. Sie telefonieren, während sie am Computer lesen. Sie chatten bei Facebook, während sie ein Dokument schreiben. Das können wir zunehmend auch in der Arbeitswelt beobachten. Doch was bringt diese angebliche Errungenschaft des Multitaskings? Eine wissenschaftliche Untersuchung zur geistigen Leistungsfähigkeit von Menschen, die viel mediales Multitasking betreiben, ergab, dass alle Fähigkeiten, die beim Multitasking eine Rolle spielen, in entsprechenden Tests bei Multitaskern schlechter ausfallen. Sie können sich nicht so gut auf das Wesentliche konzentrieren, sind leichter ablenkbar und können nicht einmal besser zwischen unterschiedlichen Aufgaben hin- und herwechseln als Nicht-Multitasker. Im Gegenteil: Sie können all dies deutlich schlechter. Mit anderen Worten, wer noch keine Aufmerksamkeitsstörung hat, der kann sie sich durch Multitasking antrainieren. Von dieser mittlerweile auch hierzulande weit verbreiteten multimedialen Unsitte ist daher dringend abzuraten!

Auf die Unternehmen kommt also keine Generation hoch qualifizierter Berufsanfänger zu?

Spitzer:

Ich fürchte nicht. Die vielfach gepriesenen Fähigkeiten der jungen Generation lösen sich bei näherem Hinsehen in Luft auf. Dies betrifft insbesondere ihren vermeintlich überlegenen Umgang mit Informationen.

Warum?

Spitzer:

Wer sich über einen Sachverhalt informiert, der durchläuft das, was man seit etwa 150 Jahren den hermeneutischen Zirkel nennt. Er erkennt das Ganze durch Einzelheiten und die Einzelheiten durch das Ganze; er geht dem Hinweis einer guten Quelle nach, und wenn er nicht weiterkommt, geht er zur guten Quelle zurück, weil eine gute Quelle eben viele Hinweise enthält. Die Erschließung eines neuen Sachverhalts geht gar nicht anders als mit einem solchen kreisenden Vorgehen. Diesen hermeneutischen Zirkel der Erkenntnis durchlaufen Digital Natives nicht: Sie klicken für eine Weile wahllos herum und kommen nie zu einer guten Quelle zurück; sie suchen horizontal, also oberflächlich, nicht vertikal in der Tiefe. Wer sich wirklich Wissen aneignen will, muss sich aktiv damit auseinandersetzen, Inhalte hin- und herwälzen, immer wieder durchkneten, infrage stellen, analysieren und die Inhalte neu zusammensetzen. Das ist etwas ganz anderes als das Übertragen von Bits und Bytes von einem Speichermedium zum anderen. Wer nur mit Copy and Paste arbeitet, versteht nichts wirklich und kann sich nichts merken. Die für das Lernen notwendige Tiefe geistiger Arbeit wurde durch digitale Oberflächlichkeit ersetzt.

Aber entstehen nicht mit Crowdsourcing und Schwarmintelligenz ganz neue Formen der kollektiven Informationsverarbeitung?

Spitzer:

Diese Aktivitäten werden vielleicht am Markt erfolgreich sein, weil sie geistige Arbeit durch Automatisierung und Verteilung auf sehr viele Menschen billig machen. Aber sie tragen keineswegs zum persönlichen Bildungsfortschritt des sich bildenden Individuums bei. Menschen sind keine Fische oder Ameisen. Große geistige Leistungen entstehen in einem Gehirn. Ich kann derzeit nicht sehen, dass digitale Medien den Gehirnbildungsprozess beschleunigen.