Jeder, der einen Führungsjob übernimmt, ist in Gefahr, seine Position zu missbrauchen, sagen Psychologen und raten: Hinterfragen Sie Ihre Rolle.

"Ich darf nicht mehr so nett sein", resümiert Frank S. nach den ersten Wochen in der neuen Position. Die ersten Hürden als Abteilungsleiter hat er mit Bravour genommen, erste Duftmarken gesetzt. Aber auch ein wenig Unsicherheit schwingt mit, wenn er mit seinem Coach seine neue Rolle bespricht. Der soll ihm helfen, der größten Versuchung, die mit der Beförderung verbunden ist, zu widerstehen: die Macht, die ihm die Führung von Mitarbeitern gibt, illegitim zu gebrauchen - sie zu missbrauchen. Das sei viel schwieriger als es auf den ersten Blick scheine, erklärt Psychologie-Professor Erich H. Witte von der Universität Hamburg.

"Menschen, die in eine Machtposition kommen, sind immer auch in Gefahr, diese Position zu missbrauchen, das zeigt die empirische Forschung", sagt Witte. "Sie nehmen die Perspektive ihrer Mitarbeiter nicht mehr ausreichend wahr. Sie können sich nicht mehr in sie hineinversetzen. Dabei vergessen sie ihre vorige Position und agieren aus einer Machtposition heraus. Da muss man gegensteuern."

Beliebte Kollegen steigen leicht auf - nur oft bleiben sie dann nicht so nett

"Paradoxon der Macht" nennen die Psychologen das Problem. Es beschreibt, wie Macht den Menschen verändert. Denn eigentlich wird niemand befördert, weil er besonders unfreundlich, herrschsüchtig und rücksichtslos ist. Besonders leicht steigen im Gegenteil Kollegen auf, die beliebt sind. Doch anstatt integer zu bleiben, werden sie in der neuen Position unzugänglich und entdecken ihre herrische Ader.

Hinter sachlicher Kritik wittern sie den Versuch der Demontage. Fähige Mitarbeiter werden als Konkurrenten wahrgenommen. Den Olymp der eigenen Macht zu sichern, wird zur Tagesaufgabe. Schnell an Gesprächstermine kommen nur noch Personen, die zum inneren Zirkel gehören. Der Rest wartet. Ethisch fragwürdige Praktiken sichern die Macht und lähmen das Unternehmen. Machtmissbrauch in Reinkultur lautet die Diagnose.

Macht verändert den Menschen, leider viel zu selten zum Guten. Niemand hat das so eindringlich gezeigt, wie der amerikanische Psychologe Philip G. Zimbardo. 1971 sperrte er völlig durchschnittliche Studenten in seinem Stanford-Prison-Experiment in den Keller der Elite-Uni in Palo Alto. Was dann passierte, ist in dem Spielfilm "Das Experiment" als Horrorvision beschrieben: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, mutierten die Studenten zu machthungrigen, brutalen Wärtern, andere zu unterwürfigen Gefangenen. Die Situation geriet außer Kontrolle. Das Experiment musste abgebrochen werden. Der Lack der Zivilisation ist dünn.

Doch alle sozialen Strukturen sind auch von Macht geprägt. Im Unternehmen muss es immer Menschen geben, die Verantwortung tragen und Macht ausüben. Thomas Wüllner, Niederlassungsleiter beim Personal-Spezialisten von Rundstedt kann darin auch nichts Verwerfliches sehen. "Machtstreben ist ganz natürlich und durchaus wichtig für eine Karriere als Führungskraft. Macht ist notwendig, um Kräfte zu bündeln und auf ein Ziel zu konzentrieren. Ohne Macht gibt es auch keine Veränderung." Das Wichtigste jedoch sei, "Führungskräfte zu einer legitimen und ethisch sauberen Machtausübung zu befähigen". Allzu häufig sei es so, dass Führungskräfte nicht hinreichend auf ihre Aufgabe vorbereitet werden. "Bei einem Wechsel innerhalb des Unternehmens wird oft nicht erkannt, dass Spielregeln und Prioritäten in einer anderen Abteilung oder in einer anderen Rolle ganz anders sein können. Da heißt es dann, der kennt doch das Unternehmen."

Doch das sei oft ist nur die halbe Wahrheit. "Das Ergebnis ist Unsicherheit. Die wird dann häufig, wenn entsprechende Hilfe fehlt, mit übermäßigem Machtgebrauch kompensiert." Doch schon wenige Stunden Coaching könnten da helfen, glaubt Wüllner.

Diese Position teilt auch Psychologie-Professor Witte. "Führungskräften muss man beibringen die entsprechenden Stärken zu entwickeln, um Ziele zu verfolgen. Aber man muss ihnen auch sagen, dass sie verführbar sind. Dagegen hilft ein Perspektivwechsel: Ein guter Vorgesetzter hat immer gelernt, die Sichtweise des Mitarbeiters einzunehmen, ohne ihr folgen zu müssen." Wer dagegen egozentrisch sei, bei dem sei auch Machtmissbrauch zu erwarten.

Wenn Strafe und Belohnung willkürlich verteilt werden, ist es Machtmissbrauch

Aus psychologischer Sicht bietet Witte eine sehr einfache Definition für Machtmissbrauch durch Vorgesetzte an: "Immer dann, wenn Strafe und Belohnung nach nicht objektiv nachvollziehbaren, transparenten Kriterien verteilt werden, bedeutet das einen Machtmissbrauch." Dabei seien "Strafe" und "Belohnung" ausdrücklich als psychologische Kategorien und nicht wörtlich zu verstehen. Gehaltserhöhungen, Beförderungen, Vergünstigungen, Qualifizierungsmaßnahmen und bestimmte Freiheiten gehören ebenso in diese Kategorien wie Mehrarbeit, Überstunden oder die Erfahrung, nicht angehört zu werden. Transparenz, Offenheit und ein vom Management regelmäßig eingefordertes Feedback helfen, dass die Gratwanderung zwischen notwendigem Machtgebrauch und folgenschwerem Machtmissbrauch gelingt.

Für Frank S., der glaubt, auf seinem neuen Chefsessel jetzt härter sein zu müssen, hat Psychologe Witte einen Rat parat: "Nett sein hat bei uns ja manchmal den Beiklang eines ständigen Nachgebens und Harmoniestrebens. Anpassung zum Zwecke der Konfliktvermeidung ist der falsche Weg. Eine Führungskraft muss immer ganz klar sagen, was sie will. Wenn es mehrere Wege gibt, ist immer auch die Perspektive des Mitarbeiters zu berücksichtigen. In dieser Weise nett zu sein, ist völlig okay. Aber wenn es eine Abweichung vom Ziel gibt, muss korrigiert werden - mit Respekt vor dem Mitarbeiter."