Nicht nur Menschen, sondern auch Organisationen werden vom Burn-out-Syndrom befallen, erklärt Gustav Greve

Rund ein Fünftel der deutschen Bevölkerung geht wegen psychischer Probleme zum Arzt oder Psychotherapeuten. Das oft zugrunde liegende Burn-out-Syndrom läuft in erkennbaren Stadien vom Zwang, sich zu beweisen, über Werteverfall und Verdrängung bis zur Erschöpfung ab. Dass aber Organisationen einen ähnlichen Weg gehen können, ist eine überraschende Erkenntnis, die der Unternehmensberater Gustav Greve, 59, erstmals systematisch und mit Therapieansätzen beschrieben hat.

Hamburger Abendblatt: Die Diagnose Burn-out wird bislang immer nur bei Menschen gestellt. Jetzt behaupten Sie, dass auch Unternehmen an Erschöpfung leiden und "ausbrennen" können. Wie ist das möglich?

Gustav Greve: Das Organizational Burnout, ich kürze das gern mit OBO ab, liegt dann vor, wenn sich eine Organisation in einem erschöpften und paralysierten Zustand befindet und mit eigenen Ressourcen diesen als unerwünscht erkannten Zustand nicht mehr positiv verändern kann. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um ein Wirtschaftsunternehmen handelt oder um eine marktferne Institution.

Der Begriff Burn-out beschreibt eine anhaltende Leistungs- und Antriebsschwäche. Woran machen Sie das bei Organisationen fest?

Greve: Vor Jahren habe ich einen Sanierungsfall übernommen, bei dem mir erstmals die Idee kam, dass es ein Burn-out einer Organisation, ähnlich wie beim Menschen, geben könne. In dem Unternehmen zeigten die Analysen erstens klar ein Defizit an Führung: Die beiden Geschäftsführer hatten sich nichts zu sagen und boten den Mitarbeitern keine motivierende Vision. Zweitens gab es einen nachhaltigen Brain Drain - die besten Mitarbeiter wanderten ab, wobei sie übrigens den verweilenden Beschäftigten ihr Bedauern aussprachen, dass diese bleiben müssten. Drittens gab es eine abnehmende Marktakzeptanz: Das Preis-Leistungs-Verhältnis schien nicht mehr wettbewerbsfähig zu sein. Und viertens herrschte ein zynisches Klima.

Wie äußerte sich das konkret?

Greve: Nun, jeder konstruktive Vorschlag wurde maliziös belächelt und abgelehnt. Ich wollte wissen: Was waren die Ursachen für diesen desaströsen Zustand? Und wo sollte ich ansetzen? War die Firma überhaupt noch in der Lage, aus eigener Kraft wieder in die ehemals überragende Marktposition zu gelangen? Vor diesem Hintergrund zeigte sich mir erstmals das Bild einer paralysierten, erschöpften und ausgebrannten Organisation.

Aber ist eine gewisse Erschöpfung bei Mitarbeitern nicht normal? Laut Gallup haben 23 Prozent der Beschäftigten bereits innerlich gekündigt.

Greve: Ein OBO ist nicht die Summe von individueller Erschöpfung. Zum einen können einzelne Mitarbeiter unter dem Burn-out-Syndrom leiden, aber es überträgt sich nicht zwingend auf die Organisation. Zum anderen muss ein OBO nicht heißen, dass die Mitarbeiter selbst auch an Erschöpfung leiden.

Wer ist denn oft von OBO betroffen?

Greve: Prädestiniert sind Organisationen, die lange im gleichen Markt unterwegs sind, in ihrer Branche zu den Großen gehören und zu weit vom Endkunden entfernt sind. Bei ihnen treten typischerweise mehrere Symptome gleichzeitig auf: Unsicherheit über Marktakzeptanz, kundenferne Qualitätsvorstellungen, unrealistische Leistungsvorgaben, Werte- und Sinnverfremdung, Zunahme der Fluktuation, Selbstisolation der Führungsebene, Vertrauensverlust und Angst.

Welche Beispiele fallen Ihnen ein?

Greve: Das Bundesministerium der Verteidigung - das Gutachten der Strukturkommission belegt das. Und auch die HSH Nordbank befindet sich offensichtlich in einem solchen Prozess.

Lässt sich das therapieren?

Greve: Oft versucht das Management, das OBO in Eigentherapie zu behandeln - mit hektischem Aktionismus. Aber wer glaubt, seine Organisation mit Rezepten von gestern ins Morgen führen zu können, irrt gewaltig. Es gibt keine Wunderheilung. Die Therapie macht einen grundsätzlichen Kulturwandel erforderlich. Das ist ein langwieriger Prozess, aber er kann gelingen, wenn Führung und Mitarbeiter wirklich gemeinsam die Ursachen behandeln.

+++ Kurztest: Effektive Früherkennung von OBO-Symptomen +++